Der Urlaub, ein Bus und das Urteil in drei Sekunden
Die vergangenen Monate? Termine, Influenza und ein bevorstehender Umzug in der Familie. Zwischendurch mal Luft holen? Keine Chance. Aber es gab eine Deadline, eine, die wirklich zählte: Ende Oktober. Eine Woche Österreich. Kein Telefon, keine Mails, keine Termine. Nur wir. Auftanken.
Das Wetter schien den Plan zu verstehen. Am ersten Tag hüllte sich der Katschberg in dichten Nebel. Keine Sicht, kein Horizont – nicht mal das Dorfzentrum war zu erkennen. Am nächsten Morgen dann das genaue Gegenteil: Blauer Himmel, klare Luft, und oben auf dem Berg der erste Schnee. Herbstgold leuchtete zwischen den Gipfeln, rote Blätter wirbelten am Fenster vorbei, als wollten sie den Winter noch einen Moment aufhalten.
Dann dieser Morgen. Ich stehe mit dampfendem Kaffee auf der Terrasse. Halb acht. Nehme mir vor, einfach nur zu genießen, dieses Bild einzusaugen. Ein Bus fährt vorbei, voll mit Leuten, die wahrscheinlich zur Arbeit müssen. Einer schaut rüber, hält den Blick einen Moment zu lang – und schüttelt langsam den Kopf.
Sein Blick ließ mich nicht los. Ein kurzer Moment, ein fremdes Gesicht, und doch blieb da was hängen. Was hatte er gedacht? Schön hat er’s, der Typ da mit seinem Kaffee. Oder: Touri müsste man sein. Oder: Der hat die Arbeit auch nicht erfunden. Vielleicht war es nur Einbildung, aber es fühlte sich an, als hätte er in drei Sekunden sein Urteil gefällt.
Und sofort ging das Gedankenkarussell los. Musste ich ein schlechtes Gewissen haben? Weil ich gerade Urlaub machte? Weil es mir gut ging?
Warum reicht oft ein einziger Blick,
a) um uns schlechte Laune zu verpassen und / oder
b) um über jemanden zu entscheiden, ohne die Geschichte dahinter zu kennen?
Jesus wusste, wie schnell das geht. Wie leicht wir Menschen in Schubladen stecken, wie schnell wir Urteile fällen, ohne nachzufragen. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden.“ (Matthäus 7,1-2).
Ganz ehrlich? Ich kenne das. Ich spreche von mir. Da steht einer vor mir und nuschelt. Oder riecht nach Schweiß. Seine Klamotten sind fleckig. Oder er kichert die ganze Zeit überdreht vor sich hin. Und schon geht’s los – im Kopf: die Verurteilerei. Der erste Eindruck wird zur Wahrheit, ein kurzer Gedanke zum Urteilsspruch. Und dann bleibt dieses Urteil haften, lässt sich kaum noch korrigieren. Wir glauben Dinge über andere, die nicht stimmen – weil sie sich in uns festsetzen.
Nicht nur, weil wir andere falsch einschätzen, sondern weil diese Urteile sich ausbreiten. Weil sie sich wie Gerüchte verfestigen, sich verselbstständigen, größer werden, als sie je sein sollten. Falsche Urteile, falsche Schlüsse – und plötzlich tragen Menschen ein Stigma, das sie nie verdient haben.
Der Typ im Bus? Hat mich wahrscheinlich vergessen, sobald er seine Schleifmaschine oder seinen Lkw gestartet hat. Ich vergesse solche Urteile nicht so schnell. Vor allem nicht, wenn ich die Person immer wieder sehe – auf der Straße, im Gottesdienst, im Großraumbüro. Dann wird’s ernst. Dann geht’s ans Eingemachte. Dann heißt es, die Worte von Jesus ernst zu nehmen.
Weil: Es geht nicht nur darum, dass ich jemand anderem die Chance gebe, so zu sein, wie er tatsächlich ist – losgelöst von meinen (vorschnellen) Einschätzungen. In dem Satz von Jesus steckt auch eine klare Warnung. Kann man das so schreiben? Darf man das?
Doch. Muss man sogar. Denn „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ ist keine nett gemeinte Empfehlung. Es ist eine knallharte Ansage. Und „Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen“ genauso. Da bleibt kein Spielraum für Diskussionen. Klare Worte. Wie immer.