Earth, Wind & Fire auf dem Friedhof

„Asche zu Asche, Staub zu Staub!“ Der Pfarrer macht eine kurze Pause, greift nach einer kleinen Schaufel und häuft sich etwas Mutterboden auf die Metallfläche.

Er trippelt an das offene Grab und lässt die Erdklumpen auf den Sarg fallen. Nach einer kurzen Pause dreht er sich wieder zu uns, sagt noch ein paar Worte, die ich aber nicht verstehen kann. Der Wind weht jetzt in eine andere Richtung.

Wie auf Befehl neigen die Trauergäste aus der ersten Reihe ihre Köpfe. Auch der Pfarrer schaut auf den Boden. Aus einem zuerst undeutlichen Gemurmel entwickeln sich verständliche Wortfetzen. Mit einer kleinen Verzögerung setzen alle anderen auch in das Gebet ein: „… der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe…“

Vermutlich macht es „unserem Vater im Himmel“ nichts aus, dass wir dieses Gebet nicht lippensynchron an ihn richten. Ich kann mich sowieso nicht konzentrieren, starre in Richtung Grab und überlege mir, wie viel Leben jedem von uns Anwesenden noch bleibt. Es ist eine nicht einsehbare Zeitlinie, eine Reise durch die Zeit, die unvermittelt endet und dann liegen auch wir in einer solchen – mehr oder weniger – feudal ausgestatteten Holzkiste.

Beerdigungen, Trauerfeiern… – Anlässe, die einem den unsichtbar erhobenen und drohenden Zeigefinger entgegenstrecken: „Iss weniger!“, „beweg dich öfter“, „nimm dir mehr Zeit für deine Familie und Freunde!“, glaub an Gott!“ – Aufforderungen, die meistens wie die an Silvester geschworenen Veränderungen die nächsten Stunden bis zum kommenden Morgen nicht überleben.

Beim ersten Licht des neuen Tages hat der unsichtbare Zeigefinger sowieso seinen Schrecken verloren.

Um mich herum murmelt sich die Trauergemeinde dem Ende des Gebetes entgegen. Konzentrieren kann ich mich immer noch nicht. Ich presse meine Lippen aufeinander. Bloß nicht so tun als ob! Keine Show. Die ist überflüssig, denn die, die dort in ihrer Kiste liegt, interessiert sich nicht mehr für mein Verhalten. Die hat das Ende ihrer Reise erreicht. Ihr Tod kam als Erlösung daher. Endlich vorbei mit dem Siechtum, endlich vorbei mit der Qual. Und jetzt… jetzt ist sie im Reich Gottes. Dort, wo „Tränen abgewischt werden“. Diesen himmlischen Trost hatte sie dringend nötig. Vermutlich brauchte es dazu im Himmel nicht nur eine Packung Taschentücher – vorausgesetzt es gibt sie dort.

„Amen!“ Meine Nebenleute heben den Kopf und wischen sich die Tränen aus den Augen. Das Gebet ist beendet und die Zurückgebliebenen trösten sich gegenseitig. Der Pfarrer tritt einige Meter in den Hintergrund und macht so den Weg für uns Trauergäste frei; wir dürfen am Grab einige Sekunden verharren und der Verstorbenen einen letzten Gruß auf die Reise mitgeben. Ich habe mit mir zu kämpfen, denn eigentlich muss und will ich nicht ans offene Grab. Warum auch? Die Hülle der Toten verwest dort unten vor sich hin und braucht auch keinen Gruß von mir. Um keinen Eklat zu fabrizieren, lade ich eine Schaufel voll mit Dreck und werfe die Erdklumpen auf die pinkfarbenen Rosen. Schade drum.

Mag sein, dass der ein oder andere diese Zeilen als despektierlich oder sogar lieblos empfindet. Das täte mir leid, denn so ist es nicht. Vielmehr bestürzt mich dieses nicht zu Ende Gedachte. Natürlich ist da Trauer – und wie! Ein geliebter Mensch, Jahrzehnte an der Seite seiner Familie und Freunde, ist nicht mehr da. Das stürzt in Trauer, kann sogar in eine Depression führen. Oder noch schlimmer. Als meine Großmutter verstarb, nahm sich mein Opa nur ein paar Wochen später sein Leben. Er konnte und er wollte nicht ohne sie leben. Es war seine Entscheidung, sein unwiderruflicher Wille.

Vielmehr wehre ich mich gegen dieses „letzte Grüßen“. Dieses Stehen am offenen Grab und das Starren auf eine Holzkiste, die im Erdloch auf ihre letzte Schüttung wartet. Eigentlich sollten wir nach oben blicken; nach dort, wo Freude über den neuen Himmelsbürger herrscht. Und, wenn ich schon am Aufzählen bin: Von welcher „letzten Reise“ spricht der Pfarrer? Etwa von der über den Fluss Styx? Dieses Gewässer aus der griechischen Mythologie, das die Welt der Lebenden von der Unterwelt, dem Hades trennt – dort, wo Charon der Fährmann wartet, und sich nur dann in Bewegung setzt, wenn der Fahrgast seine Überfahrt auch bezahlen kann? Dann hätten wir dem Toten besser ein paar Euro in den offenen Sarg geworfen.

„Sein Reich komme“ hat die Trauergemeinde gerade noch gesagt. Von daher fällt die Geschichte von Charon dem Fährmann und der notwendige Kohle schon mal flach.

„Sein Reich komme“ – mit dieser als Aufforderung verstandenen Bitte möchte der Beter, dass Gott endlich kommt. Sichtbar. Dass der Himmel aufreißt und der Schöpfer von Mensch und Universum sichtbar und auf ewig seine Herrschaft antritt. „Zack!“ „Jetzt!“ „Komm schon!“ „Mach dem allem ein Ende!“ Und vor allem: „Lass uns mit allen Gläubigen endlich wieder vereint sein. Bitte!!“ So ist das mit diesem Gebet. Mit dieser Aussage. Gott soll sein Reich aufrichten, und zwar schleunigst.

Passiert das endlich, wäre dies dann der letzte von drei Schritten. Es käme ein Prozess zum Abschluss, der mit dem Kommen von Jesus begonnen hat. Der hat das beginnende und kommende Reich Gottes angekündigt. Hat davon gesprochen, dass es schon da ist, dieses Reich. Schritt eins. Der nächste, Schritt Nummer zwei, ist derzeit in vollem Gange: Menschen, die an Gott und Jesus glauben, sind Zeugen und Bekenner dieses Reiches. Außerdem sind sie bereits Teil dieses Königreichs: Sobald sie den blauen Planeten verlassen, gehören sie unwiderruflich zur neuen Welt – dem Königreich Gottes. Ganz ohne Fährmann und ohne Geld, allein durch ihren auf der Erde gelebten Glauben, betreten sie das Reich Gottes; werden aufs Liebevollste begrüßt und getröstet.

Alle, die nicht an das Reich Gottes glauben, Leute also, die mit „Wiederkunft“ und „Ewigkeit“ so gar nichts anfangen können, werden diesen Trost Gottes nach ihrem Leben nicht erleben. Kein Himmelreich, kein Trost, kein Gott, kein Glück. Und das ist tragisch. Wobei: Die Bedeutung von „tragisch“ reicht nicht im Geringsten aus, um die ganze Dimension der Zukunft eines ewigen Lebens der Gottesferne damit auch nur annähernd beschreiben zu können.

Hinter mir räuspern sie sich und scharren mit den Füßen; sie wollen wohl den letzten Gruß der Toten zurufen. Aber ich kann gerade noch nicht weg, weil sich in meiner Fantasie just in diesem Augenblick der Himmel öffnet und Trompeten das Kommen Gottes ankündigen. Der Horizont gießt helle Farben in die Welt und ich strahle wie ein kleines Kind an Weihnachten. Zugegeben, das liegt auch an den Bläsern. Die Trompeter in meiner Fantasie sind um Welten besser als die Phenix Horns. Das will etwas heißen, denn die Phenix Horns haben seinerzeit den Sound von Earth, Wind & Fire unverwechselbar gemacht. Aber die Heavens Horns meiner Fantasie sind um Klassen besser, geradezu gigantisch. Und dort hinten, dort auf dem Wolkengebirge, ist der König zu sehen. Der, zu dem ich bete, an den ich glaube. Der, der jetzt sein Reich aufrichtet; seine sichtbare Herrschaft in Ewigkeit; die Erfüllung des Gebets der Trauergemeinde unter blauem Himmel.

Genau in diesem Moment wünsche ich mir, dass alle, die hier stehen, von Gott getröstet werden. Bürger des Himmels auf ewig sind. Sich über die Ankunft des Reiches Gottes freuen. Nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Glück.


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