Ich schaue mir jeden Tag die Schiffe an
Eine Stadt in Bewegung. Autos atmen Abgase aus. Ampeln blinken nervös. Ich eile. Menschen drängen an mir vorbei, Telefone an den Ohren, weiter, immer weiter. Und dann – mitten im Fluss der Hast – liegt eine kleine Insel vor meinen Füßen.
Eine Postkarte.
Ich bleibe stehen. Sehe die Schrift. Krakelig, schief … von einem Kind, das noch keine Linien für seine Buchstaben braucht. Ein Satz bleibt hängen:
Ich schaue mir jeden Tag die Schiffe an.
Ich halte inne. Schaue auf die Karte, auf diesen Satz, auf die Welt um mich herum. War es ein Junge? Ein Mädchen? Wie alt? Wo steht es jetzt – irgendwo am Hafen, die Hände in den Taschen, den Blick auf den Horizont gerichtet?
Ich drehe die Karte um. Große rote Buchstaben stehen dort und sagen die Worte aller Worte:
Ich liebe dich!
Irgendjemand hat diese Karte weggeworfen. Vielleicht, weil sie nicht mehr gebraucht wurde. Vielleicht, weil die Jahre zwischen dem Kind und seiner Mama wie Wellen ans Ufer schlugen, eine nach der anderen, bis nichts mehr übrig war als ein leerer Strand.
Ich bewahre Dinge auf. Briefe, alte Kinotickets, Zettel mit hastigen „Ich liebe dichs“, die meine Kinder auf den Küchentisch legten. Ein- oder zweimal im Jahr streiche ich mit den Fingern darüber, wie über vergilbte Landkarten zu einem Leben, das immer weiterzieht.
Ob dieser Junge noch die Schiffe sieht?
Ob er noch von ihnen erzählt?
Ob er seiner Mama noch sein Leben zeigt?
Ich weiß es nicht.
Aber ich denke an meinen himmlischen Vater.
Habe ich ihm je eine Postkarte geschrieben?
Wohin adressiert man Liebe, die keinen Ort braucht?
Erzähle ich ihm von den Schiffen, die ich sehe? Von den Schmetterlingen, die durch die Wiesen taumeln? Juble ich ihm unter meinem Helm zu, wenn ich mich in die Kurven lege? Wenn meine Frau in meinen Armen liegt? Wenn der Himmel brennt und in die Nacht fällt?
Wir werden erwachsen.
Sind erwachsen.
Und die Schiffe?
Die sehen wir nicht mehr.
Vielleicht im Urlaub, wenn das Leben sich für einen Moment ausstreckt wie ein müdes Kind. Aber wer kann schon 365 Tage im Jahr dieses Gefühl konservieren?
Ich nicht.
Und doch will ich Kind bleiben.
Staunen.
Das Leben in kleinen Dingen entdecken.
Mit kindlichem Blick auf den Hafen blicken und mich wundern, wie groß die Welt ist.
Und ich will nicht vergessen, dass Gott meine Geschichten liebt.
Dass meine Postkarten nicht im Müll landen.
Und mein „Ich liebe dich, mein himmlischer Vater“ – das will ich ihm sagen.
Schreiben.
Flüstern.
Malen.
Fotografieren.
Filmen.
Ohne Altersbeschränkung.