plötzlich gestern

Damals, als ich jung war, saß ich oft auf dem Fußboden, mir gegenüber das alte Radio. Ein Sender spielte alte und neue Hits … auf Mittelwelle. Auf meinem Schoß lag mein wertvollster Schatz: ein silberfarbener Kassettenrecorder von Grundig.

10. Dezember 2024

Meine beiden Zeigefinger berührten gleichzeitig die Record- und die Play-Taste. Wenn aus dem alten Radiolautsprecher ein Song spielte, den ich kannte, drückte ich auf beide Tasten und hielt den Atem an. Jetzt blinkte die rote Aufnahmeleuchte, und übers Außenmikrofon wurde alles aufgenommen. Alles? Richtig, auch mein Schnaufen, eine falsche Bewegung oder der Staubsauger, den meine Mutter im falschen Moment einschaltete.

Es war die Zeit von Bandsalat und billigen Kassetten, die Zeit der gespitzten Bleistifte, mit denen ich die zerknitterten Tonbänder zurückspulte. Immer in der Hoffnung, dass wenigstens ein bisschen Musik gerettet werden konnte.  

Heute gibt es keine langen Nächte mehr mit verkrampften Zeigefingern und dem fiebrigen Warten auf den einen Supersong. Der Staubsauger kann brummen, wann er will – auf die Qualität meiner Aufnahmen hat das keine Auswirkung. Alles ist klar, steril, ohne Fehler.  
Und doch, wenn ich die alten Songs von damals höre, kommt alles wieder zurück – nicht nur die Musik. Auch die Kindheit und Geschichten, die an diesen Liedern hängen.  

Heute sitze ich hier an meinem Schreibtisch. Vor mir auf dem Monitor entsteht ein Manuskript fürs nächste Buch. Verkrampfte Zeigefinger? Fehlanzeige. Es ist eher der Rücken, der unter der Anspannung leidet …  
Das nächste Buch … es wird eine Ansammlung von Geschichten, die mich tief bewegt und mir in heftigen Situationen weitergeholfen haben. So gesehen ist das auch eine Aufnahme. Keine Töne, sondern Buchstaben. Eine Aneinanderreihung von Worten, die mich tief in meiner Seele berühren und die ich immer und immer wieder lesen möchte. Die Songs von damals haben auch meine Seele berührt. Mich bewegt. Ich habe ihre Worte immer und immer wiederholt. Noch heute kann ich sie mitsingen.  
Die Geschichten, die ich in diesen Tagen und Wochen aufschreibe, vermitteln mir etwas, das kein Song von damals geschafft hat: Sie stärken meinen Glauben an Jesus.  
Die Frauen und Männer, deren Geschichten ich aufschreibe, sprechen über das, was bleibt, wenn alles andere verschwindet.  

Mir helfen solche Lebensberichte, weil sie das Schwere nicht ausblenden:  
Da ist eine Frau, die zum dritten Mal in diesem Jahr ihren Mann ins Krankenhaus bringt. Ein Vater, der in der Ukraine auf die nächste Explosion wartet. Eine Familie, die ihre Wohnung aufgibt, weil nichts mehr da ist, was sie halten könnte. Und in den leeren Zimmern hängt die unausgesprochene Frage, die jeder hören kann, der die Sprache der Stille versteht: „Wie soll das bitte weitergehen?“  

Auch ich habe mir diese „Wie-kann-es-weitergehen-Frage“ schon gestellt. Auf der Suche nach Antworten traf ich auf Experten, die sich mit einem Trostpflaster aus der Verantwortung schlichen, und Menschen, die die Sprache der Stille nicht aushalten.  

Das Leben verlangt nach Antworten. Antworten, die wir heute nicht geben können. Uns fehlen die Anhaltspunkte: das sichtbare Land am Horizont, das Licht am Ende des Tunnels, der Grund unter unseren Füßen.  

Jesus möchte von uns, dass wir im Heute leben. Nicht, weil das Morgen unwichtig ist, sondern weil wir viel zu oft so gar nicht wissen, was wir morgen machen sollen; welche Entscheidung für die kommende Zeit die richtige ist. „Sorgt nicht!“, fordert Jesus uns auf. Diese Aufforderung ist mehr als ein Trostpflaster. Vielmehr ist es eine Einladung, die Schwelle der offenen Tür zur Stille zu überschreiten. Ein Ort, in dem wir das Reden einstellen und das Entscheiden vertagen.  
Ein Raum, in dem wir Jesus begegnen und neu das Vertrauen erlernen können. Erlernen dürfen.  

Kann sein, dass dir diese Worte ein Tor zur Vergangenheit öffnen. Dass es „plötzlich gestern“ wird. Gestern, als du noch laut gesungen, lachend gebetet, felsenfest vertraut hast. Als alles leicht, der Glaube stärker und Probleme sich von selbst lösten.  
Es stimmt: Je älter wir werden, desto umfangreicher, mächtiger und unlösbarer bauen sich Probleme um uns auf. Und je mehr wir uns um Lösungen bemühen, desto verfahrener wird unser Leben.  
Vielleicht liegt es daran, dass wir die Sprache der Stille nicht mehr beherrschen; dass wir Entscheidungen produzieren, weil Jesus in unserer Kinderzeit geblieben ist. Er zurückbleiben musste.  
So wie mein alter Grundig-Kassettenrecorder. Den habe ich entsorgt, als ich genügend Geld für ein neues, cooleres Modell zusammengespart hatte. Aber auch der hat die Reise durch die Zeit nicht überstanden.  

Die Einladung von Jesus ist zeitlos. 
 


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