Zeichen an der Wand
Es gibt Momente, in denen Geschichte stehen bleibt. So wie damals in Babylon, als ein König mitten im Fest verstummte. Eine Hand schrieb Buchstaben an die Wand. Kein Körper, kein Gesicht. Buchstaben, die wie ein Schlag wirkten: gezählt, gewogen, zu leicht befunden.
Da war dieser König. Ein Mann, der glaubte, über allem zu stehen. Einer, der sich selbst zum Maßstab machte und Menschen behandelte, als hätten sie keinen eigenen Wert. Ein König, der glaubte, die Zeit selbst im Griff zu haben. Unantastbar, aufgeblasen von Macht, als seien Menschen nichts weiter als Figuren auf seinem Spielbrett. Wer ihm widersprach, fiel. Wer schweigen musste, schwieg. Doch dann holte ihn die Wahrheit ein und ließ seinen Glanz zerbrechen.
Die alten Geschichten sind uns näher, als wir wahrhaben möchten. Sie tragen etwas in sich, das sich niemals abnutzt.
„Zeichen an der Wand“ erzählt nicht nur von einem König und seiner Überheblichkeit, sondern dieser Bericht schlägt die Brücke in unser kleines, manchmal unscheinbares Leben.
Was wäre, wenn diese Worte „gezählt, gewogen und zu leicht befunden“ auch über unserem Leben stehen?
Auch wir können Menschen behandeln, als hätten sie keinen Wert. Wir glauben, die Zeit im Griff zu haben, als liefe sie nach unserem Takt. Wir blasen uns auf, um größer zu wirken, als wir sind. Und wir tun all das ganz ohne Krone, ohne Untergebene und ohne die kalte Selbstgewissheit eines Präsidenten, der seine Wahrheit wie ein Machtwerkzeug benutzt. Worte über Glauben, Jesus und Nachfolge werden zu Hüllen, wenn unser Leben nichts davon trägt.
Wir geben Antworten, bevor wir zuhören. Wir halten fest, obwohl Loslassen klüger wäre. Wir übersehen Menschen, weil wir mit uns selbst beschäftigt sind. Wir setzen uns auf den Thron Gottes und schieben ihn an den Rand der Geschichte. Unserer Geschichte.
Und genau hier trifft uns die alte Geschichte. Der Satz an der Wand ist kein Ruf zur Umkehr – er ist das Ende des Rufens. Als die Buchstaben erschienen, war alles gesagt, alles entschieden, alles zu spät.
Paulus schreibt: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2. Korinther 5,20), und dieser Satz gehört in die Zeit vor der Wand, in die Stunden, in denen Warnungen noch gehört werden konnten. Der König von damals überhörte jede davon, bis die Wahrheit unausweichlich wurde und seine Geschichte kein Zurück mehr kannte.
Auch wir bewegen uns durch Tage, in denen wir Gottes Stimme leiser drehen, bis sie kaum noch hörbar ist. Doch seine Worte laufen uns nicht hinterher, wenn wir sie lange genug übergehen. Gott schreibt weiter – aber er schreibt nicht endlos gegen unsere Taubheit an. Die Schrift an der Wand bleibt ein Zeichen dafür, dass es einen Moment gibt, in dem Wahrheit feststeht, und dass die Zeit der Umkehr vorher liegt.
Wer hinhört, bevor die Buchstaben erscheinen, findet den Weg zurück. Wer wartet, bis sie an der Wand stehen, liest nur noch das Urteil.
Wir leben in einer Zeit, in der Gott zu uns spricht. Seine Worte warten auf eine Antwort von uns.




