Alles ohne Fragezeichen
„Sind Sie ein Wanderrprredigerr?“
Eine tiefe Stimme brummt mir von hinten direkt ins Ohr. Ich erschrecke, denn der Fragesteller reißt mich aus dem Versuch, eine App auf meinem Phone zu installieren. Normalerweise ist das kein Problem, aber an manchen Tagen versteckt sich das Normale hinterm Sofa und du lebst mit unliebsamen Überraschungen. So wie jetzt. Die blöde App verweigert sich der Installation und zickt mit permanenten Download-Fluchtversuchen.
Weil seine Frage unvermittelt kommt, erschrecke ich ein bisschen und drehe mich zu schnell in seine Richtung. Ein Amerikaner. Steht hinter mir. Siebzig Jahre oder älter. Grauer Schnäuzer mit gelben Bartspitzen. Die kurze blau-karierte Hose überdeckt die obere Hälfte seiner fahlen Beine. Hat der die vergangenen Wochen in einem Bottich voller weißer Farbe zugebracht? Sein dunkelblaues Polo-Shirt steckt im Hosenbund. In der linken Hand zittert eine grüne Gießkanne.
„Wanderrrprredigerr - hierr, Ihrre Aufschrrrifft!“
Ich unterbreche den Ganzkörperscan meines Gegenübers. Er zeigt auf den großen, schwarzen „superfromm“ - Schriftzug, der quer übers superfromme Mobil verläuft.
Genauso unvermittelt wie der Mann aus dem Wilden Westen mir seine Frage stellt, ploppt wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine Szene aus meiner Vergangenheit auf: Da ist der junge Thommy M; er besucht christlichen Events, also Jugendtreffen, Konzerte, Festivals. Bei allen Veranstaltungen entdeckt er im Eingangsbereich einen alten, gelben VW-Bus. Über der Karosserie spannt sich ein verbeultes weißes Autodach.
Besondere Kennzeichen: Die Karre ist mit frommen Aufklebern beklebt.
„Jesus kommt wieder, bist du bereit?“, steht dort. Oder „Wo wirst du die Ewigkeit verbringen?“.
Jeder Spruch endet mit einem Fragezeichen und lässt überforderte Leser zurück. Wer kann schon sagen, wo er seine Ewigkeit verbringen wird, zerbrach ich mir damals den Kopf.
Die eingefleischten Hardcore-Event-Besucher lächelten nur müde über diese Fragen. Immerhin gelang es mir, die richtige Antwort auswendig aufzusagen. Aber schon eine lapidare Gegenfrage hätte meine zur Schau gestellte Selbstsicherheit pulverisiert.
Der Fremde schlurfte übers Festivalgelände. Niemand sprach ihn an. Für mich sah er aus wie der kleine Bruder vom legendären Propheten Elia. Anstelle eines Fellmantels trug er einen Bundeswehrparka; ob er bei Aldi einkaufte oder ihn die Raben mit Fleisch und Brot versorgten, konnte keiner so genau beantworten.
In seinem gelben Bus stapelten sich Kartons, in denen ungezählte Flyer (damals: Traktate) darauf warteten, zwischen die Finger der Vorbeilaufenden gesteckt zu werden. Auf den Titelseiten dieser Schriften gab’s die Fortsetzung der unerbittlichen Fragezeichen - sie pulverisierten Zuversicht und Urteilsvermögen.
Dieser Typ war mir unheimlich; ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Seinen gelben VW-Bus umkurvte ich weitläufig. Die Fragezeichen-Traktate stießen mich ab.
Wir nannten ihn abschätzig „den Wanderprediger“.
Vierzig Jahre später stellt mir ein Amerikaner die Frage, ob ich auch so einer sei.
Faszinierend, wie schnell sich die Vergangenheit zu Wort meldet und mir in einer Mikrosekunde diese Erinnerung aufs Head-up-Display meiner Gegenwart beamt.
Der alte Amerikaner hat den Ausflug in mein Gestern verpasst.
„Nein, ich bin kein Wanderprediger“, sage ich und lächle ihm ins Gesicht.
„Ich glaube an Jesus, den Sohn Gottes.“
Kann er mit meinem Statement etwas anfangen? Ist er enttäuscht? Zufrieden? Keine Ahnung, denn der Alte dreht sich antwort-los von mir weg und läuft mit seiner grünen Gießkanne in die entgegengesetzte Richtung.
Ich steige ins Mobil, starte den Motor und fahre auf den Highway Nummer 8. Zurück nach Hause. Endlich! Fast acht Wochen war ich nicht mehr daheim. Randvolle Tage mit inspirierenden, manchmal schwierigen Begegnungen im Gepäck und im Gedächtnis. Jesus habe ich in den Gesprächen nicht verschwiegen. Warum sollte ich? Der Sohn Gottes ist Teil meines Lebens. Außerdem kommt es nicht darauf an, was ich bin, sondern wer ich bin.
Das ist der Unterschied. Zu seinerzeit.