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An der Kette

„Thomas!“ Ein Schrei fliegt durchs Haus. Ich liege in Klamotten auf dem Bett und bin damit beschäftigt, die Restfetzen eines Traums zu verarbeiten. „THOMAAAS!“ Die Tür fliegt auf und Hans steht schweratmend vor mir. „Ein Bär! Schnell! Komm schnell! Vor dem Haus ist ein Bär!“ 

Ich bekenne: In jenem Augenblick zweifelte ich an der Realität. Brüllte mein Begleiter in echt oder war das Teil meiner Schlafillusion?!?

„Wer ist wo?“, stammle ich.
Hans schüttelt mich an meiner Schulter. Er riecht nach Knoblauch. Demnach bin ich also wieder in der Gegenwart.
„Draußen, schnell, nimm deinen Foto, mach Bilder, jetzt komm schon!“ 
Hans dreht sich um und rennt die Treppe nach unten.

Ich schnappe meine Nikon und stolpere hinter Hans her. Auf dem Weg nach draußen ziehe ich den Gürtel fest. Die Schuhe bleiben im Haus. Keine Zeit für gar nichts.

An der Haustür angekommen, meldet sich eine Stimme in mir:
„Wenn das ein Bär ist … warum rennst du nach draußen? Solltest du nicht IM Haus bleiben? Zur Sicherheit?“
Ich bleibe der Stimme in mir die Antwort schuldig.

„Und warum um alles in der Welt schleifst du deine Nikon zum Raubtier? Ein Selfie kurz vor dem finalen Biss?!?“
Auch jetzt ignoriere ich die mahnende Stimme.

Ich reiße das Gartentor auf, biege nach links und bremse abrupt. Keine zwei Meter entfernt schnauft das Tier. Der Braunbär. Hoch aufgerichtet steht er da; er schwankt und streift sich mit seiner Tatze an der Nase entlang. In der hängt ein fetter Ring. Von dort führt die Nasenkette zu einer alten Frau. Sie zieht den Bären durch die Straßen. Mitten im Nirgendwo, in einem kleinen Dorf an der rumänisch-bulgarischen Grenze.

Die Alte grinst zahnlos. Das Ende der schweren Kette hat sie um ihren rechten Arm gewickelt. Manchmal zieht sie daran, um im braunen Meister keine dummen Gedanken aufkommen zu lassen.
Ich knipse ein paar Bilder. Die Alte nimmt keine Rücksicht. Weder auf mich noch auf Hans noch auf meine surrende Nikon. An der nächsten Hausecke biegt sie nach links und ist verschwunden.
Ich schaue ihr hinterher – in Socken im bulgarischen Staub stehend.
„Hat sich doch gelohnt!“, lacht Hans und verschwindet wieder im Haus.

Das Foto ist … ok. Und das Motiv „Bär und Alte im Nirgendwo“ ganz brauchbar.
Freude kommt trotzdem keine auf. Das Tier, der ehemals stolze mächtige Bär, hängt an einer Kette. Ein dressiertes Vieh; ein armer Tanzbär. Auf Befehl aufrichten, mit den Tatzen winken und durchs Dorf brüllen – vermutlich zieht die Alte mit ihrem zotteligen Gefährten von Marktplatz zu Marktplatz.

An welcher Kette hängst du?
Wer zieht dich durchs Dorf?
Wo musst du auf Befehl tanzen und dich dabei zum Affen machen?
Wirst du dabei auch fotografiert?

Heftiger Cut, ich weiß. Aber der Übertrag bietet sich an, oder?

Frage: Wann ist ein Bär ein Bär?
Die Antwort fällt nicht schwer.
Wenn er nicht an einer Kette hängt und auch nicht im Luxuszoo in Dubai seine Tage zählt.

Nächste Frage: Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Wenn er tun und lassen kann, was er will?
Wenn er komplett selbstbestimmt durchs Leben läuft?
Nope.

Würde ich jetzt lauthals „YESS!“ schrei(b)en, dann passte das so gar nicht zu den Aussagen von Jesus.
Der hält nicht hinterm Berg, wie er sich ein Miteinander vorstellt.
Ein paar Beispiele: ihm gehorsam sein. Anderen dienen. Feinde lieben. Kreuz auf sich nehmen. Und. So. Weiter.

Ist das nicht ein frommer Bär an frommer Kette?

Nein. Weder auf den ersten noch auf den zweiten und auch nicht auf den zehnten Blick.
Christen glauben daran, dass sie von Gott erschaffen sind. Ausgestattet mit bestimmten – nein: mit besonderen! – Fähigkeiten. Eigenschaften, die ihre Identität ausmachen.

Kennen wir unsere Identität, wissen wir auch um unsere Fähigkeiten. Wir werden sie einsetzen, um Gott damit zu dienen. Und zu ehren.
Jesus selbst praktizierte das so:
„Ich bin vom Himmel gekommen, nicht um zu tun, was ich will, sondern um zu tun, was der will, der mich gesandt hat.“ 
(Neues Testament, Johannesevangelium, Kapitel 6 Vers 38)

Einer der meistgenannten Antworten auf die Frage an meine superfrommen Gäste, wozu sie heute leichter Nein sagen können als noch vor fünf Jahren, heißt: „Wenn jemand etwas von mir will, das nicht meinen Fähigkeiten entspricht.“ 

So ist das.
Denn wer verstanden hat, wer er ist, setzt alles daran, Gottes Plan für sich und sein Leben zu entdecken UND diesen auch umzusetzen.

Das ist der Weg in die Freiheit.

Bildnachweis: Sashkin/Shutterstock