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Das Bett unter dem Fenster

Sie ist zweiundzwanzig und hat Knochenkrebs. „Das wird nichts mehr“,behaupten die Ärzte. „Es geht dem Ende zu“, sagt ihre jüngere Schwester. Und auch mir ist klar: Unsere Freundin wird das Hospital nicht lebend verlassen.

Also fahre ich los, um mich zu verabschieden. Panik macht sich breit – was soll ich einem jungen Menschen sagen, der so viele Pläne für die Zukunft hat? Einer jungen Frau, die von Familie, Glück und Liebe träumt? Eine, die an Jesus glaubt und ihm alles zutraut?

Auf der Fahrt ins Spital suche ich nach Zeichen und Möglichkeiten, mich aus der Verantwortung zu stehlen. Bloß nicht in das Zimmer des Todes eintreten müssen! Bloß nicht mit dem Leid konfrontiert werden!
Ich fahre weiter.

Wir kennen uns schon lange.
Es ist so einfach, über das Leben und den Glauben zu philosophieren, wenn es einigermaßen läuft:
Stress im Alltag? Komm wir beten. Wird schon irgendwie.
Zweifel? Das gehört dazu und Jesus liebt die Zweifler. Oder so.
Straßeneinsätze? Passanten einen Flyer in die Hand drücken, Smalltalk, vielleicht ein Gebet. Und hinterher: geflashed vom Erlebten.
Aber Krebs im Endstadium? Im eigenen Körper? Wo ist dieser Jesus der vergangenen (Glaubens-)Jahre?
Das Leben ist mehr als ein Verteileinsatz.

Shit! Vor dem Hospital kann ich mir den Parkplatz aussuchen. Das ist NICHT normal!
Der Aufzug bringt mich in den sechsten Stock. Es ist still. Eine Krankenschwester hebt den Kopf und nickt mir zu. Dann stehe ich vor ihrer Tür. Die Warnlampen kleben kalt und dunkel über der Tür – wieder eine Hoffnungsblase, die’s zerreisst. „Brennt die rote Lampe drehst du um und fährst nach Hause“, so mein Plan.
Aber da ist keine Visite. Noch nicht mal eine Putzfrau feudelt durch das Zimmer.
Ich klopfe.
Kein Laut.
Noch einmal.
Nichts.
Ist sie schon…?!?
Ich will es wissen, drücke die Kinke und stehe im Raum. Ein Bett. Direkt unter dem Fenster. Sie liegt dort. Sie schläft. Gott sei Dank!
Ich drehe mich um und will schnell fort.
„Thommy?“ 
Sie ist wach.

„Setz dich zu mir“, flüstert sie und zeigt auf einen Stuhl.
Mir ist schlecht. Ihr Aussehen… so anders, so zerbrechlich. Warum denke ich gerade jetzt ans Beamen in der Enterprise? Sie löst sich auf! Das ist es. Der Transport in eine andere Welt ist beinahe abgeschlossen. Das bisschen Restkörper dort im Bett ist nicht die Frau, mit der ich noch vor Kurzem diskutiert und gelacht habe.

Sie streckt mir ihre Hand entgegen und ich halte mich daran fest.
„Ich weiß nicht…“ stottere ich in die Stille. Der Kloß im Hals wird immer fetter.
Sie lächelt und zeigt auf ihre kleine braune Bibel.
„Kann ich?“…, flüstert sie, „…was vorlesen?“
Es war keine Frage und deshalb verzichte ich auf eine Antwort.
Sie hat auch keine erwartet.

Das Blättern in den dünnen Seiten fällt ihr schwer. Sie muss husten, verschluckt sich und schnauft heftig.
„Der Herr ist mein Hirte!“, krächzt sie nach einer Weile.
Ich muss heftig durchatmen. Schon wieder.
„Mir wird nichts mangeln.“ 
Sie sucht nach meiner Hand.
„Und wenn ich auch wandere im finsteren Tal, so bist du bei mir! Dein Stecken und Stab trösten mich.“ 

Der Engel im Bett macht eine kleine Verschnaufpause. Schon längst haben wir das Krankenzimmer hinter uns gelassen. In unserer Welt müssen Trauer und Schmerz draußen bleiben. Die Worte aus der Ewigkeit sorgen für ein unbeschreibliches Glück! Ich lächle und es ist mir überhaupt nicht peinlich. Sie lächelt zurück.

„Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“. 

Ist das noch der Psalm 23, aus dem sie mir vorliest oder gewährt sie mir gerade einen heimlichen Blick hinter den Vorhang, der die sichtbare von der unsichtbaren Welt trennt? Von welchen Feinden spricht sie? Wie sieht der Tisch aus, an dem sie sitzt? Was IST auf dem Tisch? Wer ist noch dabei?

„Nur Güte und Gnade werden mir folgen mein Leben lang.“ 
Mit geschlossenen Augen liegt sie da und ich werde den Verdacht nicht los, dass sie gerade jetzt ihrem Retter gegenübersitzt.

„Und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar.“ 
Ein leises, krächzendes, verschleimtes Siegesgeflüster.

Eine Sterbende tröstet den Lebenden. Und der Lebende wird diese Minuten nie mehr vergessen.
Bis heute bin ich davon überzeugt, dass sie um keine Heilung dieser Welt in ihren gesunden Alltag zurückkehren wollte.

In diesen Tagen stürzen vermeintliche Sicherheiten wie Kartenhäuser in sich zusammen. Der Auslöser dafür ist bekannt. Corona, Covid 19, das Virus. Furcht einflößende Namen. Unsicherheiten verbreitend. Geliebte Menschen sind plötzlich außer Reichweite. Sterbende werden von ihren Kindern und Freunden an der Notaufnahme wie herrenlose Hunde abgegeben. Das Virus enttarnt die sicher geglaubte Zukunftsvision: Unserem Gedankengebäude fehlt das Fundament.
Das ist tragisch.

Dem gegenüber bekennen Christen ihren Glauben; sie sprechen von „dem Fundament schlechthin“: dem Sieg von Jesus über den Tod … seiner Auferstehung … der Rückkehr ins Leben.
Es ist auch ein Sieg über die Angst, die Unsicherheit und der Einsamkeit. Es ist ein Sieg für das Leben. Und kein Virus kann dieses Leben aufhalten.
Die unsichtbaren Feinde können uns bis zur Todesgrenze vor sich hertreiben; sie können uns drohen; Zweifel säen und uns Horrorgeschichten von der Dunkelheit ins Ohr wispern.
Doch auch an der Grenze zwischen Leben und Tod hat Jesus das letzte Wort. Er ist der Bestimmer.
Never forget: Wer den Tod besiegt hat, lässt sich nicht von einem Virus aufs Kreuz legen.

Die Tür zum „Haus des Herrn“ steht sperrangelweit offen. Der übervolle Tisch ist keine Theorie. Genausowenig Jesus, der uns durch seinen Sieg über den Tod ewiges Leben möglich macht. „Wer an mich glaubt“, sagt der Sohn Gottes, „der wird leben, auch dann, wenn er gestorben ist.“

Was für eine schöne Aussicht!