Dennoch überleben
Es ist ein blauer Donnerstagnachmittag. Blau … dieses Prädikat erhalten Tage von mir erst dann, wenn sie zwei Voraussetzungen erfüllen: Droben am Himmel versperren keine Wolken die Sicht ins Nichts; und: Drunten auf meiner To-do-Liste hängen hinter allen Jobs die fetten Erledigt-Haken. So wie heute.
Kein Wunder sitze ich tiefenentspannt im superfrommen Wohnmobil. Mit der rechten Hand halte ich das Lenkrad, mein linker Arm flattert ausgeruht im Fahrtwind.
Wir fahren Richtung Norden. Auf der A 352 ist der Hund begraben; könnten sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen wenn sie wollten; tote Hose kurz nach Hannover. Das ist selten.
Meine Gedanken nutzen den Frieden aus und fliegen zurück zu Annegret. Sie erzählte mir aus ihrem Leben: Narben, Enttäuschungen, offene Fragen. Hin und wieder fuhr sie ihre Krallen aus. Verständlich … bei einem Leben ohne Happy End.
Auf der Fahrbahn neben mir winken zwei Mädels aus einem alten Golf. Sie lachen, klatschen und strecken ihre Hände in den Fahrtwind. Ich lache und winke zurück.
Noch während meine Blicke dem alten Golf hinterherfahren, hupt es. Ich schaue zur Seite, ein fetter SUV fährt auf gleicher Höhe, der Fahrer winkt mir auch. Netter Typ. Ich winke wieder zurück. Der Mann lässt die Scheibe der Beifahrertür herunter und zeigt auf unser großes Mobil. Seine Lippen bewegen sich, ich kann ihn nicht verstehen. Er überholt, setzt sich vor mich und schaltet das Warnblinklicht an. Ich verstehe. Jetzt. Am Mobil ist wohl was faul.
Ich bremse ab, fahre nach rechts auf den Standstreifen, steige aus und laufe ums Auto. Die Stoßstange liegt auf dem Asphalt, hängt nur noch an einem der Beleuchtungskabel. Ich muss sie seit geraumer Zeit hinter mir hergezogen haben. Von wegen „fröhliche Menschen“. Sie wollten mich warnen.
Ich kann das nicht reparieren - also muss ich runter von der Autobahn. Den ADAC verständigen. Hoffentlich kriegt er das hin, denn in Hamburg wartet schon der nächste Termin auf mich.
Was für ein Glück, dass es so viele hilfsbereite Menschen gibt. Eine verlorene Stoßstange, ein Kennzeichen, das im Straßengraben landet. Was hätte alles passieren können, wenn das Riesenteil mitten auf der linken Fahrbahn … ich ziehe dem Kopfkino den Stecker und setze mich auf einen Stuhl, den einer am Straßenrand vergessen hat.
Annegret warnte niemand vor Gefahren, die ihr Leben zerstörten. An einem Abend klingelte es an der Haustür und zwei Polizeibeamte sagten, dass mit ihrem Sohn etwas Schlimmes passiert sei.
„Die Einschläge kamen unvermittelt“, flüsterte sie und schwieg dann.
Auf Schicksalsschläge (was für ein treffender Begriff!) kannst du dich nicht vorbereiten. Wer ständig Unglücksszenarien in seinem Hirn kreiert, ist nicht mehr lebensfähig.
In meinem Fall kann ich den ADAC anrufen. Nach einer Stunde biegt das gelbe Auto auf den Parkplatz und zehn Minuten später drücken vier Eisenschrauben die Stoßstange an die Karosserie.
Und Annegret? Die raste mit dem Auto in das Krankenhaus; schrie zu Gott, brüllte ein Stoßgebet nach dem anderen in den Nachthimmel. Hat es geholfen?
Um ehrlich zu sein: Es wurde schlimmer. Viel schlimmer.
Kann es sein, dass wir Christen mit halbherzigen Antworten die unausgesprochenen Fragen zurückhalten, unterdrücken?
„Das hat so sein müssen“, könnte eine solche Antwort sein. Oder „wenn das nicht passiert wäre, dann …“ (hier verschiedene Optionen deiner Wahl einsetzen).
Es ist kein Zeichen von starkem Glauben, Schicksalsschläge wegzulächeln.
Warum nicht den Schmerz hinausschreien? Gott mit Fragen bombardieren? Ihm unsere Enttäuschung ins Gesicht sagen.
Vielleicht gibt es in zehn oder zwanzig Jahren eine Antwort. Vielleicht auch nicht.
Vielleicht leiden wir unser komplettes Leben unter diesem einen Tag.
Und vielleicht entdecken wir nach einer Zeit des Aufstands und der Verschwiegenheit wieder einen Funken Leben und Liebe in uns. Für die Zukunft, für uns selbst und auch für Gott.
Im Psalm 73 trifft der Autor nach einer Aufzählung von Schicksalsschlägen die Entscheidung, trotz allen Leids, Unverständnis und offener Fragen bei Gott zu bleiben. „Dennoch“, schreibt er, „dennoch bleibe ich bei dir, denn du hältst mich an meiner rechten Hand“ (Vers 23).
Annegret beendete ihre Erzählung mit genau dieser Aussage. „Ich verstehe nichts“, sagte sie leise, „aber ich bleibe dennoch bei ihm.“
Es war eine Entscheidung, die lange auf der Kippe stand.