Der heilige Gral
Dort steht er also, keine zehn Meter entfernt, hinter einer fetten Glasscheibe gegen versehentliche Ausleihe geschützt: der heilige Gral. DER Kelch, aus dem Jesus bei seinem letzten Abendessen getrunken haben soll.
Eine Wissenschaftlerin hat grünes Licht gegeben: Das Gefäß sei zu 99,9% echt! Dass die Dame eine glühende Verehrerin des alten Bechers ist, lässt klitzekleine Zweifel aufkommen.
Der Becher ist wertvoll – keine Frage. Ich erspare mir die Einzelheiten – nur so viel: Der Handwerker aus der Antike klotzte: ziseliertes Gold, Onyx, Achat. Becher dieser Art gab es mit Sicherheit nicht im Aldizelt am Marktplatz zu kaufen.
Der Kelch hat es in sich: Wer daraus trinkt, wird von Leiden aller Art befreit; hat freien Eintritt ins ewige Leben und während seines irdischen Aufenthalts lebt der Glückliche in Macht und Wohlstand.
Kein Wunder hinterließ die jahrhundertelange Suche nach dem Gegenstand eine Spur des Todes und der Verwüstung.
Valencia
Der Gral fristet sein Dasein in der Kathedrale von Valencia, der Sonnenstadt am Mittelmeer. Besucher in Flipflops und trägerlosen T-Shirts (weiblich), Flipflops und Cargohosen (männlich) sowie Flipflops und Paw Patrol-Hemdchen (gelangweilte Kinder) nehmen ihn zur Kenntnis. Noch vor ein paar Jahrhunderten hätten wilde Krieger und/ oder Tempelritter das dicke Tor zertrümmert, ihr Geschrei und das Schlagen der Hufe ihrer Pferde brächten die Kathedrale zum Beben, zufällig Anwesende ohne Rücksicht auf Alter und Gesundheit abgeschlachtet und die Kathedrale Schutt und Asche gelegt. Aber erst NACHDEM! ihr Anführer den Kelch geküsst, in sein Kettenhemd gesteckt und an sein Herz gedrückt hätte.
Die Kathedrale erzittert noch heute – glücklicherweise nur von den Flipflops-Gummisohlen auf dem Marmorboden.
Wünsche und Träume
Einen Traumkörper, genügend Kohle und Einfluss auf allen Ebenen dem Besitz eines geweihten, heiligen, lichtdurchfluteten, aus dem Universum gefallenen Glücksbringers zuzuschreiben … das kann man machen. Vielleicht funktioniert’s ja, vielleicht auch nicht.
Wenn man sich allerdings mit Jesus beschäftigt (der ja – angeblich – aus diesem Kelch getrunken haben soll), dann muss man ehrlicherweise zugeben, dass der sein Glück nicht vom Besitz eines geweihten Gegenstandes abhängig machte. Ebenso entdeckt man keine Aufforderung von ihm, sich auf die Suche nach einem solchen zu machen.
Klare Ansage
Was Geld, Macht und Einfluss betrifft, vertrat Jesus eine klare Position: verzichten, anderen helfen, unterstützen.
Nie mehr Krankenschein und Krankenhaus?
Kein Zweifel, er hat manche Menschen geheilt. Alle andere starben an Epidemien, Gräueltaten, Kriegsverletzungen und Altersschwäche.
Und der Himmel?
Auch hier gab`s für Jesus keine Diskussion: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, sagte er seinen Followern. „Niemand kommt einfach so zu Gott dem Vater. Nur der, der an mich glaubt.“
Das heißt: Ewiges Leben gibt es ganz ohne geweihten Krug, ohne geheime Mittelchen, ohne Zaubertricks und schon gar nicht mit Gewalt.
Bleibt der Glaube.
So einfach, und manchmal doch so schwer.