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Der Tiger

Damals.
Vor vielen Jahren bekam sein Papa von seinen Eltern einen großen Stofftiger geschenkt.
Das Tier lag mit im Bett, hockte auf dem Boden und beobachtete das Kind beim Spielen. Nachts wachte er über den kleinen, schlafenden Jungen.

Als sein Papa älter wurde, musste der Tiger zu den anderen Stofftieren. Hinauf auf den Dachboden. In einem Umzugskarton hielten die Tiere ihre Vergangenheit am Leben.

Kürzlich befreite der Papa vom Papa den Tiger aus dem Umzugskarton.
Die Mama vom Papa rubbelte dem Stofftier den Staub aus dem Tigerfell.
Jetzt sieht er wieder aus wie früher.
Dann hat der Papa vom Papa das geputzte Tigertier aufs Sofa gesetzt.
Hat gewartet, bis der Sohn vom Sohn ins Wohnzimmer kommt.

Der Kleine öffnet die Tür, sieht den Stofftiertiger und wird zum Eisklotz. Dann erst schreit er seine Angst ins Zimmer, dreht sich und flieht in die Arme seines Vaters.
Der Tiger ist verwirrt.
Papa erschrocken.
Und der Papa vom Papa auch.

Es hat gedauert, bis der Kleine zum Tigertier schielte.
Papa half ihm dabei, Vertrauen zu fassen:
Er streichelte den Tigerkopf; drückte das Tier an seine Brust. Papa warf es sogar in die Luft und fing es geschickt wieder auf.
Der Kleine stellte das Weinen ein und streckte vorsichtig seinen rechten Zeigefinger nach dem Tier.
Irgendwann gab es die erste Berührung.

Bis sie gute Freunde werden und der Tiger die Nachtwachen übernehmen darf, wird es noch eine Weile brauchen. Aber das ist in Ordnung so.
Denn bis sich Angst in Vertrauen verwandelt, braucht es viele gemeinsame Spiele: Autos, die über das Tigerfell fahren; kleine Bären, die auf dem Stofftiertigerrücken reiten; tränentröstende Tigertatzen über kleinen Bubenbacken.

Viele von uns stehen einem Tiger gegenüber, der lähmt; uns schreien lässt; Panikattacken auslöst.
Ein Tier, von dem andere behaupten, dass es gar nicht beißt.
Nur spielen will.
Sie sagen, dass wir eine Gefahr sehen, die keine ist.
Aber wir ahnen eine Zerstörung; riechen drohende Verletzung.
Doch die anderen lachen, weil sie unsere Angst nicht ernst nehmen.
UNS nicht ernst nehmen.

Wie gut, dass wir uns in die Arme unseres himmlischen Papas stürzen dürfen.
Er lacht uns nicht aus; nimmt unsere Tränen ernst.

Wie gut, dass er sich unserer Geschwindigkeit anpasst und uns nicht überfordert.

Wie gut, dass er uns die Angst nimmt - und wenn uns das ein halbes Leben kosten sollte.

Wie gut, dass es bei unserem himmlischen Vater keine Altersbeschränkung gibt; dass er auch übergewichtige, lebenserfahrene und mit vielen Herausforderungen gewaschene Typen in seinen Armen hält.

Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und (angst-)beladen seid. Ich will euch Ruhe geben.
Sagt der himmlische Sohn vom himmlischen Papa.

Und wir … die kleinen geliebten Söhne und Töchter dürfen in die göttlichen Arme fallen. Vor Angst schreien. Hemmungslos weinen. Erschöpft einschlafen.
Der Stofftiertiger ist am nächsten Morgen immer noch da.
Und unser himmlischer Papa auch.