Der Traum von Freiheit
Wenn ich an einem kalten Herbstmorgen in Gummistiefeln durch die Wiesen stapfe und am Himmel die ersten Wildgänse in Richtung Süden fliegen sehe, dann beginnt meine Fantasie, mit ihren Flügeln zu schlagen. Sie will hinterher. Sich einreihen in die riesige V-Formation der Himmelswanderer. In Gedanken grüße ich meinen Flugnachbarn hinter mir mit einem kurzen Kopfnicken und beobachte dann wieder die Welt von ganz weit oben.
Hat schon was, dieser Gedanke. Völlig losgelöst und frei von Angst und Sorgen. Aber … ich bin keine Wildgans. Ich stehe mitten auf der nassen Wiese und will zurück ins Warme.
Echte Freiheit. Die einen denken dabei an Jesus, ich bin mehr mit Janis Joplin zugange. Zumindest an diesem kalten Morgen.
"Freedom's just another word for nothin' left to lose" (Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts mehr zu verlieren zu haben), schrie sie in die Welt. Es ist eine Zeile aus ihrem wohl bekanntesten Song „Me and Bobby McGee“.
Janis Joplin hat das mit einer rauen Stimme gesungen, die mehr vom Leben wusste, als sie sollte. Freiheit – das war für sie etwas, das keine Regeln kannte. Die Lady rebellierte, zerstörte ihr bisheriges Leben, um sich neu zu finden, doch am Ende war da nur noch Leere.
Mit 27 Jahren starb sie an einer Überdosis. Von wegen Freiheit. Das, was sie suchte, blieb unerreichbar; das scheinbare Glück nur ein Trugbild.
Songs … Wildgänse … der gefakte Traum vom Sommerglück der Influencer … ganz schön gefährlich, wenn wir uns in einem miesen Zustand befinden. Dann, wenn in unserem Leben die Dunkelheit überhandnimmt.
Jetzt erst denke ich an Jesus. Auch er brachte den Freiheitsgedanken unters Volk. Allerdings stand er nicht auf Bühnen und röhrte über die Köpfe der Zuschauer. Er hatte keine Selbsterfahrungstrips hinter sich, die doch nur Selbstzerstörung brachten.
Während Janis in die Nacht hinausschrie, dass alles egal sei, bot Jesus eine Freiheit an, die aus Liebe entsteht und nicht aus der Verzweiflung. Eine Freiheit, die in der Gewissheit ruht, dass man gehalten ist, selbst wenn alles andere versagt.
Und jetzt sind wir mitten in der Realität … auf der nassen Herbstwiese, in der Küche die aussieht wie bei Schwein’s, den vollen Wäschekörben und den mobbenden Kollegen. Das Freiheitsideal von Janis Joplin war laut und falsch; ein Statement, das sie selbst nicht ausleben konnte.
Jesus hingegen spricht von einer Freiheit, die da anfängt, wo unsere eigene Kraft endet. "Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei." – Diese Worte aus Johannes 8,36 sind keine Versprechungen, die sich in Luft auflösen. Sondern sie sind ein Fundament, das uns trägt, selbst wenn die Nacht am tiefsten ist. Eine Freiheit, die nicht fordert, perfekt zu sein, sondern die uns so annimmt, wie wir sind – mit all unseren Rissen und Narben, mit den Geschichten, die wir sonst niemandem erzählen.
Glauben an Jesus heißt, loszulassen – nicht, weil alles verloren ist, sondern weil es jemanden gibt, der stärker ist als unsere Dunkelheit. Glauben an Jesus ist die Einladung, die Fesseln der Angst abzulegen und in das Licht zu treten, das er uns anbietet. Er ist der Ort, an dem man die Lasten ablegen und zur Ruhe kommen kann, wo die Leere gefüllt wird und die Stille nicht mehr beängstigend ist.
Es gibt viel zu viele Augenblicke, in denen wir unseren Gedanken erlauben, mit den Flügeln zu schlagen. Situationen, in denen wir in der Gefahr stehen, die Reißleine zu ziehen, um dem gefährlichen Sirenengesang einer falschen Freiheit zu folgen.
Wildgänse in V-Formation … die Sonnenuntergänge der Influencer rechts von Dubai … Songs von Freiheit und Freiwerden … alles keine Grundlage für Veränderung. Jeder, der sich darauf einlässt, stürzt ab.
Ganz anders bei Jesus: Er spricht die Einladung aus, hinein in die Wahrheit zu treten – eine Wahrheit, die sich nicht an Oberflächen festmacht, sondern die in die Tiefe unseres Seins geht. Eine Freiheit, die bedeutet, nicht mehr aus Angst, sondern aus Liebe zu handeln.
Die Wahrheit, die Jesus verkörpert, ist nicht von dieser Welt. Genau sie ist es, was wir am meisten brauchen. Es ist eine Freiheit, die uns das Loslassen lehrt – von alten Verletzungen, von Selbsttäuschungen, von den Dingen, die wir nicht sein müssen.