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Die Nutte, das Mädchen und die Blumen

Ich schätze sie auf Mitte Vierzig. Sie sitzt auf einem weißen Plastikstuhl und wippt mit ihrem rechten Bein. Dabei versucht sie unentwegt, Blickkontakt mit den Vorbeifahrenden herzustellen. Bleibt einer zu lange in ihren Augen hängen, hält sie ihr schwarzes Haar in den Wind und legt die Hand aufs Knie.

Trotzdem bremst keiner ab. Bei über dreißig Grad im Schatten hat wohl niemand große Lust auf eine schnelle Nummer. Alles in allem also keine guten Arbeitsbedingungen für jemand, der sich mit Prostitution seinen Lebensunterhalt verdient.

Nur ein paar Meter weiter liegen bunte Blumen unter einer Leitplanke. Ich hab sie schon öfter gesehen und mir keine großen Gedanken dabei gemacht. Alle paar Kilometer stehen diese stummen Zeugen an der Landstraße. „Griechenland!“, rufe ich in den Rückspiegel und versuche, den Blumenstrauß nicht aus den Augen zu verlieren.

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Jemand hat die Tür in die Vergangenheit aufgestoßen; ich stolpere hinein und bin Teil einer Geschichte, die schon lange zurück liegt. Es ist gerade so, als ob du dir ein altes Buch aus dem Regal ziehst, ein paar Seiten darin blätterst und dir dann unvermittelt ein zerknittertes Foto in die Hände fällt.

Du hast es seinerzeit als Lesezeichen benutzt. Du starrst auf die Gesichter, die Zeitmaschine startet ihren Motor und zerrt dich rückwärts durch die Jahre.

Ich bremse ab und fahre an den Straßenrand. Autos hupen aber das interessiert mich nicht. Nicht jetzt. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel – die Frau bleibt sitzen.

Es war während eines Abenteuerurlaubs. Eine Jugendgruppe organisierte eine Reise quer durch Griechenland. Sie wollten jemand, der ihnen täglich ein kurzes Kapitel aus der Bibel erklärte. „Würdest du das machen?“, fragte mich der Leiter und dachte wohl, die Anfrage sei lediglich eine Formsache. „Mit dem Schiff?“ Er nickte. „Du meinst, wir sind eine Nacht auf dem Boot und…“ „Achtzehn Stunden“, rief er und stieß gegen meinen Ellbogen. „Das wird was, oder? Komm schon, mach mit!“

Mir wird auf einer Luftmatratze schlecht. Kein Scheiß. Und dann achtzehn Stunden auf einer Fähre? Schlafen an Deck, morgens auf See die erste Predigt? Ich schüttelte den Kopf. „Das pack ich nicht. Auf keinen Fall.“

Sie bearbeiteten mich zu dritt. Warum ich trotzdem zusagte, lag definitiv nicht an ihren Überzeugungskünsten. Ich befand mich mitten im Theologiestudium und brauchte dringend noch ein Praktikum, um die Voraussetzungen fürs letzte Studienjahr vorzuweisen.

Das Meer zeigte sich von seiner besten Seite. Nichts los auf dem Wasser. Alles gut. Dann kam der Reisebus. Die Fahrt führte durch das Pindus – Gebirge. Ziel: die Meteora – Klöster. Das hieß: Eine Kurve nach der anderen. Stundenlang. Abbremsen, Gegenverkehr ausweichen, Gas geben. Was das Meer nicht schaffte, gelang dem Busfahrer. Gerade noch rechtzeitig gab ich dem Fahrer das Zeichen zum Anhalten, fiel aus dem Bus, beugte mich über die Leitplanke und würgte. Ein paar Meter weiter steckten bunte Blumen in der Leitplanke. An ihnen hing ein Foto in schwarz/weiß.

Kurze Zeit später ging ́s wieder. Mein Magen hatte sich beruhigt und der Busfahrer gab sich Mühe. Erst jetzt registrierte ich die vielen frischen Blumen entlang der Straße. Alle paar Kilometer ein Strauß – meistens weiße Nelken.

Abends, endlich am Campingplatz angekommen, trafen wir uns, um das Programm für den nächsten Tag durchzusprechen. Die Jugendlichen baten mich um eine kurze Abendandacht. Ich wählte die vielen Blumen von unterwegs als Beispiel dafür, wie schnell das Leben sich verändern oder auch vorbei sein kann. Unfall, Verletzung, Tod. So schnell, dass manchmal gar keine Zeit mehr bleibt, um sich von seiner Familie und seinen Freunden zu verabschieden.

„Das Leben bewusst gestalten und leben…, und auch die Zeit danach nicht vergessen… – Herausforderungen, die wir nicht verdrängen dürfen.“

„Wie meinst du das?“ Sie war höchstens achtzehn und saß auf ihrer Luftmatratze.

Ich griff nach meiner Bibel und las ein paar Zeilen einer Geschichte vor. Darin konfrontiert eine junge Frau Jesus mit einem Todesfall aus ihrer Familie. „Wer an mich glaubt“, gibt ihr Jesus seinerzeit zur Antwort, „wird leben – auch dann, wenn er gestorben ist. Glaubst du das?“ Anstatt eines schlichten „ja“ oder eines bloßen Kopfnickens formuliert diese Frau ein Bekenntnis, das zeigt, wie sehr sie sich mit dieser Frage schon seit längerem auseinandergesetzt hat: „Ich glaube, dass du der Erlöser, dass du der Sohn Gottes bist.“

Später, als die anderen schon in ihren Schlafsäcken lagen, kam sie zu mir. Sie hatte geweint. „Mit meinem Glauben…“, fing sie an und heulte los. Ich schwieg.

„… weißt du, die Frau, die Geschichte von vorhin, also…“ Sie fuhr sich mit einem Taschentuch über die Nase, „ich will das auch so sagen können. Verstehst du, was ich meine?“ „Dass Jesus der Sohn Gottes ist?“ Sie nickte. „Das… das ist so echt, weißt du. Die Frau, und das spür ich ihr total ab, hat sich Gedanken gemacht. Sie will das. Total! Und ihre Antwort ist so… ist so echt.“ „Was hättest du gesagt?“ Sie griff nach einem Stein und rieb ihn an ihrer Jeans. „Vermutlich…“, begann sie stockend, „vermutlich hätte ich ihm gesagt, dass ich es nicht weiß.“ Sie warf den Stein ins Feuer. „Aber dass ich es wissen möchte!“

Wie lange wir in jener Nacht über den Glauben, Jesus und das Leben geredet haben, weiß ich nicht mehr.

Am nächsten Morgen wurde ich geweckt. Jemand rüttelte vorsichtig an meiner Schulter. Ich schob den Kopf aus dem Schlafsack und sah in das Gesicht von diesem Mädchen, dessen Namen ich vergessen habe. Sie kniete neben mir.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich Jesus gesagt habe, was ich von ihm halte. Meinst du, es nervt ihn, wenn ich dafür die gleichen Worte gebraucht hab wie die Frau aus der Bibel? Ich meine, da kann ich ja schon nichts falsch ma…“

„Mit Sicherheit nervt er sich!“

Ich stöhnte auf.

„Echt jetzt?“

Ihre Augen hüpften durchs Gesicht.

„Ist das verboten und muss ich mir…“

„Quatsch Mensch, alles in Ordnung, echt, war nur Spaß. Ich bin noch ein bisschen müde!“

Sie lächelte.

„Ok, dann ist ́s mir recht. Danke. Bin echt froh, dass ich das so sagen kann.“

Sie stand auf und verschwand in ihr Zelt.

„Ich auch“, flüsterte ich und schob meinen Kopf zurück in den Schlafsack.

Im Rückspiegel sehe ich die Lady. Sie sitzt noch immer auf ihrem weißen Stuhl und schaut in eine andere Richtung.