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Die Regenbogenpistole

„Obaa! Da, Regenbogen! Regebogenpistole!“

Milo zieht den Plastikgriff seiner Wasserpistole nach hinten. Ein langer Strahl schießt aus dem dünnen Rohr und glitzert unter blauem Himmel.
„Da! Obaa!“
Der Kleine jubelt. Er hat eine Regenbogenpistole! Was für ein Kracher! Ich hocke mich ins Gras und beobachte unseren kleinen Enkelmann.

Dreijährige schaffen es problemlos, angesichts solcher Wunder auszurasten. Wir Großen…
…wir mit unseren geschulten Augen, die sich an so Vielem sattgesehen haben…
…wir mit unserem aufgeklärten Wissen über Wohl und Wehe dieser Zeit, einem Verstand, der messerscharf trennen kann in  „geht und geht nicht“
…also wir Realitätsexperten (oder besser: Fantasiezerstörer) hätten sofort mit Spiegelung, Lichteinfall und Abstrahlwinkel argumentiert.

Den Zauber für das Ungewöhnliche haben wir entsorgt: Er liegt auf dem Grund großer Kisten; dort, wo auch der Teddy, die erste Puppe und die Matchbox-Autos auf ein Auferstehungswunder hoffen.

Spätestens dann, wenn wir auf einer Untersuchungsliege auf den Arzt und das Ergebnis warten, flehen wir nach dem Ungewöhnlichen.
Oder wenn man an seiner Wohnungstüre lehnt und sich ganz doll wünscht, dass der, der auf der anderen Seite der Tür mit seinem Schlüssel das Schloss nicht findet, auf Nimmerwiedersehen nach Timbuktu gezaubert wird.

Doch das ist nicht dasselbe.
Daumen drücken vor Untersuchungsergebnissen und böse Menschen verzaubern funktioniert nicht immer. Vorsichtig ausgedrückt.
Eine Abenteuerreise in ein längst vergessenes Land klappt immer:
Die Plastikpistole zum Regenbogenmalen liegt dort drüben im frisch gemähten Gras. Sie funktioniert. Auch morgen. Und nicht nur bei Milo. Regenbogenmalern kann jeder.

Es funktioniert immer. Selbst im Bankeroutfit oder kurzen Schwarzen kannst du dich auf duftendem Waldboden ausbreiten, um neue Welten zu entdecken: Gräser, die im Takt zum Sommerwind tanzen; Ameisen im Dauerstress; ein scheuer Fuchs, der sich vor dem Jäger in seinen Bau zurückzieht.
Alles da. Immer.

Schade, dass wir viel zu oft die unentdeckten Welten erst dann bemerken, wenn uns die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt und uns das Ticken der Lebensuhr zum ersten Mal bewusst wird.

Vielleicht nervte Jesus an seinen Jüngern ihr oberlehrerhaftes Erwachsenengetue. Die selbsternannten Bodyguards verteilten Zutrittskarten. Könnte man sagen. Kinder bekamen keine. Durften nicht vortreten. Die Blagen sollten abhauen und bloß nicht nerven.
Aber: toller, toller Jesus! Wie er seine Jünger vor Publikum zusammenscheißt und die Kleinen in seine Arme nimmt… das ist schon der Burner! Und dann haut er dieses mega Statement raus:
„Ich sag´s euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, bleibt für euch das Himmelreich verschlossen. Kapiert?“(Ist ein kleines bisschen Meyerhöfer-Fantasie-Übersetzung dabei… aber passt schon )

Wie geht „Kinder werden“?
Nein, es geht nicht ums Schrumpfen, zurück von einsachtzig auf neunzig Zentimeter. Kleidergröße 84. Kundenkarte für die H&M – Kinderabteilung. Und es geht auch nicht ums Praktizieren verstümmelter Babysprache.

Vielmehr braucht es den neuen Blick auf Jesus. Dazu gehört das Ignorieren der Bodyguards. Die, die angeblich wissen, was mann/frau tun muss, um in den inner circle zu kommen; in die Nähe von Jesus also.

Wie schafft man es als Erwachsener, auf Entdeckungsreise zu gehen? Das Staunen wiederzuentdecken, spontan über sich selbst zu lachen, mit anderen zu heulen weil sie das Leben nicht mehr tragen können?
Bestimmt gibt es hunderttausend und noch mehr Antworten. Ich will eine versuchen:
Es braucht die unbedingte Anwesenheitspflicht im eigenen Leben.

Ich würde gerne sagen, dass dieser Satz von mir stammt. Leider nicht. Ist trotzdem super

Das alles geht mir durch den Kopf, während ich den kleinen Milo beobachte. Der rennt wie Feuerwehrmann Sam zum Ende des Regenbogens.
„Weg!“, brüllt er immer wieder, „Obaa, Regenbogen weg!“ 

Bevor ich eine viel zu erwachsenmäßig klingende Erklärung geben kann, zieht er mit einer schnellen Handbewegung neues Wasser ins Plastikrohr und zielt zum zweiten Mal in den weiten Himmel.
„Regenbogen! Obaa! Da! Boah!“ 

Was für ein glückliches, regenbogenspritzendes Kind. Manchmal braucht es für das große Glück nur eine Wasserpistole. Und Augen für das Unscheinbare. Und das alles ohne Altersbeschränkung.