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Eine Nacht im Tulpenfeld

Es ist fast auf den Tag genau ein Jahr her:
Wir sind in Nordholland unterwegs. Die Geliebte checkt die Ausstattung diverser Boutiquen einer Kleinstadt und ich hänge mit geschlossenen Augen auf der Parkbank: Sonnenstrahlen auffangen, von Windböen Haut und Lippen mit einer dünnen Salzschicht bekleben lassen oder unter halbgeschlossenen Lidern Möwen beobachten, wie die sich um vergammelte Pommes in Majotunke prügeln.

Ein Aufschrei zerstört die Idylle: „Die Hyazinthen hab‘ ich, jetzt die Tulpen für Mutti!“ 
Ich hebe vorsichtig den Kopf. Die Augen immer noch auf fünfzig Prozent Sehstärke. Ein dicker fetter Nikon-Bolide rutscht in mein Blickfeld. Es ist eine D850. Das Ding kostet fast zweieinhalb tausend Euro – ohne Objektiv versteht sich. Jetzt bin ich wach.
Kräftige Finger greifen nach der schaukelnden Kamera und zerren sie übers viel zu enge Hemd. Das Gesicht des Fremden wird von der Kamera verdeckt. Der Typ, ich schätze ihn auf Anfang sechzig, beugt sich leicht nach vorne, atmet schwer, dreht am Objektiv und drückt auf den Auslöser. Und noch einmal.
„So!“ Der korpulente Fotograf schaut zufrieden in die Runde und drückt seinen Rücken durch. „Jetzt ins Café. Wer kommt mit?“ 
Fotograf und Gefolge überqueren die Straße und verschwinden in einer Hütte, auf deren Dach eine riesige Eistüte im Wind schaukelt. Zurück bleibt ein weißer Plastikkübel, in dem lila Tulpen fassungslos ihre Köpfe schütteln.
So wie ich.

Schon klar … kann man machen. Im Tulpenparadies weiße Blumenkübel ablichten. Dabei farbexplodieren keine fünfhundert Meter weiter riesige Tulpenfelder. Der auflandige Meerwind lässt die Blumen tanzen. Eine Choreo, nicht einstudiert und trotzdem perfekt. Das wär doch was für Mutti!

Wenige Stunden zuvor krabbelte ich auf allen vieren durch ein Riesenfeld. Schön vorsichtig, immer auf der Strohspur zwischen den kilometerlangen Reihen. An einer Wasserstelle ließ ich mich auf den Rücken fallen und starrte in den Himmel – die Kamera fest in meiner Hand. Ein Entenpaar kreischte. Die beiden zofften sich und bewegten dabei synchron ihre Flügel. Sie flogen tief – vielleicht auf der Suche nach einem Nachtlager? Die Sonne hatte sich hinterm Deich in die Nordsee fallen lassen und der Leuchtturm streckte seinen grellen Zeigefinger in den Abendhimmel.
So lag ich im Tulpenfeld und atmete die Landschaft ein. Was für ein Schauspiel.

Logisch – nicht jeder muss eine Nacht im Tulpenfeld verbracht haben, um seine Fotos daheim zu präsentieren. Fotografenmutti wird sich über Hyazinthen- und Tulipanpics gefreut haben.
Wer über die Kakophonie der Nachtgeräusche, die Farben der untergehenden Sonne, dem Aufblitzen der ersten Sterne und den Duftflash von Millionen Blumen erzählen will, kommt morgens mit Stroh im Haar nach Hause; hat feuchte Klamotten und sieht übernächtigt aus. Seine Lippen schmecken salzig und die ersten Radfahrer verdrehen ihre Köpfe.

„Schmeckt und seht, wie freundlich Gott der Herr ist!“, steht in der Bibel*. Für mich klingt das wie eine Einladung zur Nacht im Tulpenfeld: Gott lässt sich erfahren, erleben und bezweifeln.
Über den Glauben an Gott / Jesus lässt sich diskutieren. Distanz erlaubt vage Rückschlüsse. Hängt ein entsprechender Nikon-Bolide überm Bauch, findet sich im Vorbeigehen das ein oder andere Motiv. Für Mutti.
Aber ein Statement ist ein Statement und keine Erfahrung.

Nur wer die Nacht im Tulpenfeld verbracht hat, ist mit den Blumen per Du.
Nur wer seine Komfortzone hinter sich lässt, wer die Einladung Gottes annimmt, ihn mit allen Sinnen erfahren zu dürfen, weiß, warum er glaubt. Der läuft an weißen Blumenkübeln vorbei, als wären sie nicht da.