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Erinnerungen

Ein alter Mann lehnt an der Backsteinmauer der Liebfrauenkirche. Die wenigen Touristen beachten ihn nicht. Sie haben anderes vor, denn schwarze Wolken hängen tief und drohen Brügge mit dem nächsten Platzregen. Dem Alten neben mir ist das Wetter gleichgültig. Er hat nur Augen für einen möglichen Hauptgewinn: Mit der linken Faust umklammert er seine Lose, die er sich von einem der vielen Glücksverkäufer hat aufschwatzen lassen. Eins nach dem anderen reißt er auf und starrt auf die Zahlenkombinationen.

Für den Alten gibt’s heute nichts zu feiern; er zerreißt die Nieten und überlässt die falschen Versprechungen den giftigen Windböen. Über uns donnert’s. Es wird höchste Zeit, sich einen trockenen Platz zu suchen. Die ersten fetten Tropfen wässern meine Haare. Ich haste ins Café und sichere mir den letzten freien Tisch unterm riesigen Regenschirm.

Der Alte humpelt in die andere Richtung. Ich könnte wetten, dass ihm der Sommerregen eine heftige Dusche verpasst. Aber ich hab’s ja nicht so mit den Glücksspielen …

Ich warte auf meinen Kaffee und die Geschichte einer älteren Dame schaut vorbei:
Unterwegs in der Fußgängerzone blieb sie vor einem Bettler stehen, sah ihn lange an und sagte schließlich:
„Du brauchst Jesus!“ 

Obwohl ich’s ja – wie erwähnt – gar nicht mit der Glücksspielerei habe, fülle ich in Gedanken bereits den nächsten Wettschein aus:

  • dass bei einem hohen Prozentsatz der Leser aufgrund dieser „Jesus-Aufforderung“ die Galle überläuft,
  • Brechreize zucken oder
  • schlecht abgeheilte Wunden wieder aufreißen.

Oft überdecken Erfahrungen aus der Vergangenheit den Blick auf die Wahrheit.
Gut möglich, dass der Alte vor vielen Jahren ein bisschen Glück hatte und einige Euros gewann. Heute spielt er immer noch und hofft auf Big Points.
Vielleicht gab’s in unserer Vergangenheit eine Konfrontation mit diesen ekligen „Du brauchst Jesus“ – Schreiern. Typen, die lieblos durch die fromme Welt walzten und einen Scherbenhaufen hinterließen. Deshalb schweigen wir heute immer noch und tun uns mit der Wahrheit so schwer.

Ist etwas falsch an „du brauchst Jesus“? Nein. Jeder Mensch braucht Jesus – zum Leben und zum Sterben. Fürs Heute und die Ewigkeit. Ohne Glaube an Jesus kein Himmel.

Es liegt an uns, ob wir einen auf „Phrasendrescher“ machen oder die Message der Bibel so weitergeben, wie Jesus uns das vorgemacht hat: liebevoll und mit Anteilnahme.

„Du brauchst Jesus!“ – da ist jeder Buchstabe Wahrheit. Allerdings nicht vom hölzernen Podest heruntergebrüllt, sondern auf Augenhöhe weitergegeben. Mit einer Umarmung, mit Zeit, mit Hilfe, mit Liebe.

Die Dame aus der Fußgängerzone durfte mit ihrer gütigen Stimme, mit ihrem liebevollen Blick und ihrer mitfühlenden Art direkt ins Herz des Bettlers.

Es liegt an uns, wie wir die Botschaft des Lebens weitergeben.
Um die Mächte der Vergangenheit endlich ins Jenseits zu befördern, helfen einige Sprachübungen vor dem Spiegel:
„Du brauchst Jesus!“ „Du brauchst Jesus!“ Du brauchst Jesus!“
Lächeln UND atmen nicht vergessen!