Blog

Geisterstunden

Das steinerne Wohnhaus, das meinen Großeltern gehörte, ragte von einem Abhang weg wie auf einer Kinderzeichnung.
Das Haus sah aus, als hätte es ein Abschleppwagen an einem Hang aus Versehen vom Haken gelassen.

Zwei Geheimnisse verbargen sich in seinem Gemäuer: Ein dunkler, stinkender nasser Keller. Der Zutritt war mir unter Androhung von Höchststrafen verboten worden: Keine Besuche mehr im Spielwarengeschäft meiner Träume; Pommes-Verbot; Anruf bei den Eltern samt vorzeitiger Rückkehr. 
Die schwere Holztür konnte sowieso nur von der Straße her geöffnet werden; von demjenigen, der die drei Schlüssel zu den riesigen Vorhängeschlössern sein Eigen nannte. 
Einmal hörte ich meine Oma sagen, dass dort die Ratten hausten. So wie sie das Wort „Ratten“ betonte, mussten es sich um Kreaturen direkt aus der Hölle handeln. Und darauf hatte ich schon damals keine Lust. 

Vielmehr erklärte ich Geheimnis Nummer zwei zum Gradmesser meines Entdeckermutes: den Dachboden. 
Eine Fläche so riesig, dass unbedachte Schritte unweigerlich den elenden Tod bedeuteten: verirrt, verloren, verhungert. Oder gefressen. Richtig gelesen - denn aus weit entfernten Ecken keuchten und kratzten Stimmen einer kinderfressenden Spezies. 

Mein Bruder und ich spielten „Wer schafft es, die andere Hauswand mit den Fingerspitzen zu berühren und wieder zurück?“. 
Natürlich haben wir uns gegenseitig geschworen, versprochen und beteuert, es ans gegenüberliegende Mauerwerk geschafft zu haben. Aufgeregt erzählten wir von fremden Kontakten, glimmenden Augen und krächzenden Stimmen auf dem Weg hinüber und zurück. 
Was mich betrifft, ... ich habe gelogen. Die andere Seite des Dachbodens habe ich nie erreicht ... seinerzeit vor über fünfzig Jahren. 

Heute liegt dieses Foto vor mir. Eines, das keine Rücksicht auf mutige Kinderträume nimmt:
Dieser Dachboden, vor langer Zeit so riesig wie der Mond, ist in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Monster ausgestorben, verborgene Geheimnisse von großen Dachfenstern entzaubert, fremden Stimmen wurde Sprechverbot erteilt. Das furchteinflößende Mysterium hat die Zeitreise bis in unsere Gegenwart verweigert. 
Die Zeit der Mutproben ist vorbei. 

Vieles, was mir früher Angst machte, hat im Heute seine Schrecken verloren. Ich bin älter geworden, abgeklärter, mutiger vielleicht. Auf alle Fälle ist mein Erfahrungskonto angewachsen. Das ist auch gut so. Ich möchte nämlich nicht mit zitternden Knien vor einem kleinen dunklen Dachboden kapitulieren. 

Im Rückblick fallen mir Situationen ein, die mir als Jugendlicher und auch als Heranwachsender schlaflose Nächte bereiteten. Vieles davon hat mit Vertrauen und dem Glauben an Jesus zu tun: Das erste Bekenntnis vor meinen Kumpels; die Gespräche mit meinen Polizisten-Kollegen; der erste Flyer, dem ich einem Unbekannten überreichte; der kilometerlange Marsch hoch zu einer riesigen Predigerkanzel – beobachtet von hunderttausend Wolfsaugen, nur darauf wartend, mich für die erste falsche Aussage bei lebendigem Leib zu zerreißen. Und. So. Weiter.

Heute kann ich darüber genauso lächeln wie über das Geheimnis des verwunschenen Dachbodens. Diese Episode gehört zu meinem Leben wie die der vermeintlich hungrigen Wölfe. 

Und doch: Die Gegenwart hält immer neue Herausforderungen bereit. Situationen, in denen mein ganzer Mut gefordert ist: Da ist die harte Realität des älter Werdens, die Sorge um Kinder und Enkel, finanzielle Herausforderungen, das Wiedererstarken rechtsradikaler Gesänge und Verbrechen, die Umsetzung vom Willen Gottes. Und. So. Weiter.

Das Rad der Zeit zurückzudrehen funktioniert nicht. Jede Sekunde schiebt uns gnadenlos in die Zukunft; eine, die meinen Erfahrungshorizont schlecht dastehen lässt. 

Und doch: 
Zwei Dinge habe ich gelernt. Das eine ist: Es hilft nichts, sich selbst zu belügen. Damals habe ich meinen Bruder davon überzeugt, dass ich es bis ans Ende des unendlichen Dachbodens und zurückgeschafft habe.
Heute muss ich keinem etwas beweisen. Niemand meinen (angeblichen) Mut anpreisen. Vielmehr stehe ich zu meiner Angst. Meiner Sorge. Begrabe riesige Zukunftsfragezeichen nicht auf dem Acker der Sorglosigkeit. 
Stattdessen rede ich mit Jesus drüber. Von Mann zu Gott. Was für ein Vorrecht, diese Zweisamkeit in Anspruch nehmen zu dürfen. 24/7.

Und das andere: Ich glaube ihm. Mehr noch als vor zehn, zwanzig oder was weiß ich wie viel Jahren. Denn dieser Gott lügt nicht. „In der Welt hast du Angst“, bringt er mein Innenleben auf den Punkt, „aber sei getrost, ich habe die Welt überwunden.“ 
Genau das habe ich, was weiß ich wie oft erlebt: 
Trost vom Tröster. Trost vom Überwinder. Trost vom Sieger. 

Die Dachböden meiner kleinen Welt gibt es immer noch. Auch in ihnen kommen Monster vor. Gestalten, die mir an die Gurgel wollen. Wege, die mir viel zu lang erscheinen. Im Gegensatz zu damals drücke mich eng an Jesus. „Ich bin noch da“, stammle ich. Und: „Bleib bloß bei mir, sonst packe ich das nicht!“ 

Jesus verdreht nach solchen Statements nicht seine Augen. Stattdessen nimmt er mich nur noch fester an die Hand. „Ich bin da und bleibe bei dir“, soll das wohl heißen. 
Was für ein Glück. 

Dann mal los. Den Monstern entgegen. Immer auf Tuchfühlung mit dem Unbesiegbaren.