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nicht witzig!!!

Keine drei Meter von mir entfernt hüpft ein kleiner Mann durch den Schnee. Er zieht einen blauen Schlitten hinter sich her. Ich schätze ihn auf vier, höchstens fünf Jahre. Er ist ganz in seinem Element: Der Kleine spricht mit sich selbst, lacht zwischendurch und kickt den persilweißen Schnee durch die Luft. Plötzlich zieht’s ihm die Beine weg, er landet auf seinem Allerwertesten, der Bursche dreht sich um, sieht mich und brüllt: „NICHT WITZIG!!“

Soweit die Story. Aber: ICH HABE NICHT GELACHT! Echt nicht. Kein Zucken in den Mundwinkeln, kein Schnauben, Prusten, Lippen zusammenpressen. Nada.
Und trotzdem brüllt mich der Kleine an. Um genau zu sein: sogar zweimal.

„Präventive Maßnahme“ nennt man das wohl. Dieser Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „zuvorkommen“ oder „verhüten“.
Was mich betrifft – seine zuvor-kommende Maßnahme ist für die Katz’ … mir ist weder nach Spott und Hohn, sondern ich mache mir eher Sorgen um seine Schmerzen: Steißbein auf Eis verträgt sich nicht – zumindest nicht in meinem Alter.

Schon klar: Wäre der kleine Bursche mit seinen Kumpels unterwegs gewesen, hätten die ihn vermutlich womöglich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgelacht.
Und er?
Wäre als Loser dagestanden. Vielmehr: gehockt.
Und das lässt kein Vierjähriger dieser Welt auf sich sitzen. Deshalb haut er einen raus: „NICHT WITZIG!“

Verlassen wir die Welt der Kindergartenkinder und tauchen ein in den Kosmos der Erwachsenen: Angenommen … uns haut’s aufs Eis. Soll heißen: Irgendein Alltagsglatteis bringt uns zum Schmirgeln: Füße in die höh, Steißbein auf Eisbein, peinlich bis zum Abwinken und der Verschrumpfungsgenerator (Maus, Loch, verschwinden) gibt ausgerechnet jetzt seinen Geist auf. Passt.
Wie reagieren wir im Angesicht der (fiktiven) Spötter?

Was dort in der Kinderwelt passiert, begleitet uns durchs Leben. Nur die präventiven Maßnahmen verändern sich. Oder kennst du jemand, der im fortgeschrittenen Alter nach einem Treppensturz „NICHT WITZIG“ durchs Treppenhaus brüllt?
Ich nicht.

Unsereiner überspielt die peinliche Situation. Da wird verhalten gelächelt und erst zuhause geheult. In den eigenen vier Wänden flackert das Licht und die fette Filmspule vom Kopfkino fängt an zu surren: Wir interpretieren wie die Weltmeister – zu unserem Nachteil natürlich; wir beenden kommentarlos Beziehungen; ziehen uns schweigend zurück und vereinsamen; sprechen uns Fähigkeiten ab.
Und. So. Weiter.
Und das ist tatsächlich nicht witzig.

Im aktuellen superfrommen Beitrag erzählt ein Mann seine Geschichte: dass er seinen ungeliebten Beruf an den Nagel hängte; die Ehe den Bach des Scheiterns hinabrauschte; es eine Zeit des Reflektierens brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen.
Dieser Erzähler macht seinen „Sturz aufs Eis“ öffentlich.
Nicht jeder Zuschauer kann mit dieser Offenheit umgehen. Manche verurteilen ihn sogar und untermauern ihre schädlichen Kommentare mit Bibelversen.
Das war zu erwarten, denn ein objektiver Blick in unsere Welt zeigt, dass Starke, Laute, Machtgeile und Besserwisser sehr wohl den heimtückischen Umgang mit Bibelversen beherrschen: Da wird getrickst, gedengelt und gedehnt. Hauptsache, sie ziehen sich einen persönlichen Vorteil daraus.

Ganz anders Jesus: „Seid barmherzig“, fordert er die Gläubigen auf, „wie auch euer Vater barmherzig ist.“*

Wie wäre es wohl, wenn jemand nach einem heftigen Lebenssturz die Barmherzigkeit der Christen erfahren würde? Dreck abwischen, verbinden, verpflastern, eine Decke reichen, mit dem Nötigsten versorgen, Schweiß abtupfen.
Die persönliche Meinung darf erst dann aus dem Mund, wenn der Gestürzte wieder festen Boden unter den Füßen hat. Und auch dann mit Respekt und Ehrerbietung.
„Nächstenliebe“ nennt man das. Auch darüber spricht Jesus.

Es gibt viel zu tun.

   

*Neues Testament, Lukasevangelium Kapitel 6, Vers 36