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Psycho-Spielchen

Ich sitze auf einem schwarzen, unbequemen Patientenstuhl. Der könnte auch ansatzlos als Bürostuhl durchgehen, aber weil er im Behandlungszimmer eines Arztes steht, ist es eben ein Patientenstuhl. Der Patient bin ich.

27. September 2022

Vor ein paar Tagen hat’s mich gelegt. Sowasvon. Die kleine Stufe vor mir versteckte sich in der Dämmerung, und schon lag ich flach auf dem Boden. Seitdem schmerzt mein linkes Knie. Und weil mir der Physiotherapeut meines absoluten Vertrauens erklärte, dass es sich hier um eine Prellung handelt und er sie für mich behandeln kann, will ich den Arzt um eine Überweisung bitten.

An der Arztzimmerwand hängt ein Bild. Jemand malte einen Löwenkopf, der aus einer schwarzen, kreuzförmigen Silhouette lugt. Noch bevor mir sich der Sinn erschließen kann, geht die Tür auf und der Doktor betritt sein Zimmer.

Ich erkläre ihm mein Problem und er starrt lange auf das Knie.

„Manche Leiden können auch eine psychische Ursache haben“, sagt der Arzt und lehnt sich zurück.

Meine Psyche und mein Herz schalten gleichzeitig um auf Notbetrieb. Kein Wunder, denn nach siebenjähriger Dauerbehandlung mit erfahrenen Therapeuten ist mir bekannt, dass der Psyche viel zuzutrauen ist:

Dieses geheimnisvolle Wesen schafft es ansatzlos, dem Körper Krankheiten unterzujubeln, die er eigentlich gar nicht hat. Unserer Psyche gelingt es sogar, das Herz aus dem Tritt zu bringen; sie kann den Darm zerstören; die Nebenhöhlen verstopfen und die Muskeln verknoten. Meine Gesichtsfarbe verändert sich: Muskeln verknoten? Mein Knieproblem? Sollte tatsächlich … habe ich … weigere ich mich etwa, dem Strom des Lebens zu folgen und schmerzt deshalb mein linkes Knie?

„Unser Körper besteht aus Leib, Seele und Geist,“ unterbricht der Arzt meine einseitige Ursachenforschung. „Stellen Sie sich vor, Ihr Körper ist ein Mobile mit 100.000 Teilen. Ich berühre eins dieser Teile - zum Beispiel Ihr Knie - und schon fängt das gesamte Mobile an zu schwingen.“

Das leuchtet mir ein.

„Ich bin aber gestürzt!“, erinnere ich uns beide an mein eigentliches Anliegen. „Aufs Knie.“

Der Arzt schmunzelt hintergründig. "Schon klar", ruft er und drückt auf ein paar Tasten. "Das war nicht als Diagnose gedacht, sondern ein wichtiger Hinweis auf die großen Zusammenhänge in unserem komplexen Körper."

Ich nicke und lächle zurück.

Wenig später spuckt der Drucker mir die Überweisung aus.

Zurück im Auto rufe ich den Physio meines Vertrauens an. Vielleicht hat er ja Termine frei oder kann mich dazwischenschieben und kümmert sich um mein lädiertes Knie.

Meine Gedanken klammern sich an die komplexe Psyche … dieses Universum unendlicher Weiten. Ein Mysterium. Opfer haarsträubender Spekulationen; Spielplatz selbst ernannter Spezialisten, Esoteriker aller Art, Seelsorger mit dem Hang zur Dramatik.

Kommen dann noch fromme Tendenzen mit ins Diagnose-Spiel, rückt die erwünschte Heilung ins weit entfernte binäre Sonnensystem.

Soll heißen: Psychische Erkrankungen gehören in die Hände von Spezialisten. Vage Vermutungen, vollmundige Heilungszusagen, das Hören auf spezielle Offenbarungen oder ein viel zu schnelles Handauflegen sind genauso gefährlich wie die Aufforderung an Kranke, einen starken Glauben an den Tag zu legen.

Mit meinem lädierten Knie kann ich keinen Marathon laufen. Der defekten Psyche fehlt die Kraft zum Glauben. Der Aufenthalt im Krankenhaus ist ätzend. Unfälle sind schrecklich und der Tod kommt viel zu früh. Meistens.

Und doch: Jesus hat geheilt wie keiner nach ihm. Jahrzehntelange Krankheiten wurden zu Schall und Rauch. Verschwunden - nur durch einen Befehl, ein Wort, einen Fingerzeig oder einem durchdringenden Blick.

Doch nun die große Enttäuschung: Es waren Einzelne im weiten Erdenrund. Damals. Und daran hat sich bis in unsere Gegenwart hinein so ganz und gar nichts verändert.

Es gibt Zeiten, in denen wir durch „finstere Täler“ kriechen. Lebensabschnitte, wo unsere innigen Gebete es höchstens bis zur Zimmerdecke schaffen.

Wie verlockend und gefährlich, wenn in solch tiefdunklen Lebensphasen angebliche Spezialisten auftauchen, die mit Begriffen wie „Heilung“, „Freiheit“ und „wahrer Glaube“ vor unserer abgesoffenen Psyche herumhampeln.

Wer sich ein wenig ins Neue Testament einliest, wird feststellen, dass der Lebensschwerpunkt seinerzeit nicht auf „Gesundheit“, „Bucket-List“ und „Glück“ lag, sondern auf „Nachfolge“, „Vertrauen“ und „Bekenntnis“.

Das wiederum nervte die nicht fromme Bevölkerung und es kam zu unschönen Szenen; Bilder, die wir heute aus Pakistan, Afghanistan oder einigen afrikanischen Ländern kennen.

Dort leben Menschen, die wie ich an Jesus glauben. Mit einem Unterschied: Sie müssen dafür leiden (und ... manchmal auch deshalb sterben).

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“

Dass ihnen derselbe göttliche Trost wie mir zugesprochen wird, rückt meine manchmal verquere Vorstellung zurecht: Es geht weder in erster noch in zweiter und auch nicht in fünfter Linie um mein Wohlergehen, sondern um einen gelebten Glauben. Dass in diesem unserem Leben der Körper und / oder die Seele Schaden nehmen, gehört mit zum Plan. Wohl dem, der sich diesen Blick bewahren kann - auch im Schmerz. Oder: Glücklich, wer in Krankheitszeiten vom Auftauchen angeblicher Spezialisten verschont bleibt.

Mein Physio wohnt zwanzig Kilometer von mir entfernt. Einfache Strecke. Bei diesen Spritpreisen ist das ein enormer Kostenfaktor. Außerdem führt die Strecke an zig Baustellenampeln vorbei. Aber der Zeitaufwand lohnt sich: Meinem linken Knie geht’s etwas besser und deshalb meiner angespannten Psyche auch.