Seinen Namen vergessen
An einem Montag saß er mir im superfrommen Atelier gegenüber. Der erste Gast an diesem Tag. Der erste von vier.
Er leidet an Alzheimer. Die Untersuchungsergebnisse sind kein halbes Jahr alt. Noch kann er Auto fahren. Noch.
Alzheimer. Schimpfwort für die einen, Todesurteil für die anderen. Dürftiges Randwissen im Halbschlaf genügt, um ein paar typischen Symptome aufzuzählen: vergesslich, alltagsuntauglich, orientierungslos.
Und: Unheilbar.
Obwohl die Forschung ständig neue Fortschritte macht, gibt es immer noch kein Gegenmittel.
Mein Gast weiß das.
Und er weiß auch, dass bei ihm das Vergessen schon eingesetzt hat.
Irgendwann wird er nicht mehr wissen, wie er heißt.
Jeder von uns könnte der nächste sein.
Wenn das Schweigen eine Mauer bildet, die kein Mensch übersteigen kann.
Wer seinen Namen vergisst, kennt niemand mehr.
Keinen.
Auch nicht Jesus?
Richtig. Jesus fällt auch der Krankheit zum Opfer.
Alles weg.
Um Kind Gottes zu sein, bedarf es keiner eigenen Anstrengung.
Er hat sich uns in den Weg gestellt.
Unsere Augen geöffnet.
Uns mit unserem Namen gerufen.
Und wir … wir haben staunend vor Glück ein „ja“ gestammelt.
Vielleicht unter Tränen ein „Ich glaube an dich“ geflüstert.
Wer an den Sohn Gottes glaubt, dessen Name steht im Buch des Lebens.
Wenn ich meinen Namen nicht mehr weiß … Jesus vergisst ihn nicht. Eine Ewigkeit nicht.
„Meine Schafe hören meine Stimme“, sagte er seinen Zuhörern im Tempel. „Ich kenne sie, und sie folgen mir und ich gebe ihnen das ewige Leben. Sie werden niemals verloren gehen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“
Niemand.
Kein Krebs. Kein künstliches Koma. Kein Alzheimer.
Wir als Angehörige und Freunde leiden mit.
Weinen, weil der geliebte Mensch sein Menschsein verliert.
Hoffen, dass das Leid ein schnelles Ende findet.
Beten, dass der Himmel sich öffnet und sich die Frage nach dem vergessenen Namen eine Ewigkeit lang erledigt hat.