Blog

unfähig

Unfähig!

Ein paar Worte genügen für einen heftigen Flashback:
Im Bücherregal steht ein altes Notizbuch. Ich greife danach, blättere durch die Seiten und ein Papierfetzen fällt zu Boden. Ich hebe ihn auf und starre auf die Zeichnung. Was heißt Zeichnung … es sind Striche. Gekrakel. Unsichere Kreise.
Nichts besonderes… wenn… ja wenn da nicht diese Anmerkung am rechten oberen Eck stehen würde: Das Datum des Kunstwerks, der Name des Künstlers plus die Location, in der es gemalt wurde.

Das Bild ist genau dreißig Jahre alt. Seinerzeit lag unser Sohn diagnoselos im Krankenhaus. Weit weg von daheim – wir fuhren in den Süden und ich sollte in einer Gemeinde predigen.

Kurz vor dem Ziel ein fetter Stau. Stillstand und Hitze! Unserem Sohn ging’s richtig schlecht. Der Kleine wurde immer heißer, verdrehte seine Augen, konnte nichts trinken. Er legte seinen verschwitzten Kopf auf den Schoß seiner Schwester und atmete (sehr) schnell.
Im Rückspiegel heizte die Feuerwehr mit Blaulicht durch die Rettungsgasse. Die Autos rasten an uns vorbei … und ich hinterher. Nach einigen Kilometern erreichten wir die Unfallstelle und klar – ich wurde sofort gestoppt.
„Wir haben einen Notfall!“, brüllte ich aus dem Fenster, „unser Sohn muss schnell ins Krankenhaus!“
Der Polizist beugte sich ins Auto, schrie seinem Kollgen ein „lass die durch!“ zu und wir konnten weiterfahren. Erst zu einem Kinderarzt und von dort aus direkt mit dem Krankenwagen ins Spital. Schon wieder Blaulicht und Martinshorn.

Dreißig Jahre.
Ein kleiner Zettel in meiner Hand reicht aus, um die Vergangenheit sowasvon lebendig werden zu lassen. Die Verzweiflung ist wieder da, die Angst, dieser Druck auf der Brust, die Sorge um die Familie, das Gebrüll der Feuerwehr, das Gesicht des Polizeibeamten. Alles.

Und noch ein „Zettel“ oder „Hinweis“ oder „Verheißung“ findet heute morgen den Weg in meine Gegenwart: Da fordert Jesus
seine Zuhörer auf, sich keine Sorgen zu machen.*

Ist so etwas überhaupt machbar?
Wenn dein Kind auf der Rücksitzbank immer schwächer wird?
Wenn du knietief im Dispo stehst?
Dein Haus im Schlamm versinkt?
Wenn dir dein Mann eine Beziehung mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau gesteht?
Dein Kind in Afghanistan verletzt oder getötet wurde?
Der Oberarzt an deinem Bett nach Worten sucht?
Wenn also die Frage nach dem „Warum um alles in der Welt?!?“ nicht beantwortet werden kann?

Hätte mir damals einer diese Aufforderung von Jesus unter die Nase gerieben, wäre ich ausgerastet.

Es gibt Zeiten, in denen wir alle Kraft brauchen, um zu funktionieren. Also: Rettungsgasse fahren, Polizist anbrüllen, Kind ins Krankenhaus bringen. Warten.

Das grandios wunderbar liebevolle (sorry, ich könnte noch hundert Adjektive dieser Art aneinanderreichen) an Jesus ist, dass er NICHT darauf wartet, dass wir in schweren Situationen den „ich darf mir keine Sorgen machen weil Jesus das gesagt hat – Knopf“ drücken und deshalb alles meisterhaft lächelnd ertragen können.

Und das (ich wiederhole mich jetzt) grandios wunderbar liebevolle an Jesus ist, dass er mit meinem Gestammel in solchen Notsituationen („hilf / wie weiter / du musst jetzt!!!“) extrem gut klarkommt.

Heute, dreißig Jahre später, geht es unserem Sohn sehr gut. Die Krankheit von damals ist überstanden.
Und?!? Ende gut alles gut?
Nope.
Allein in den vergangenen zwölf Monaten gab’s einige Situationen, die ich im „Funktionieren-Modus“ überstehen musste.
Bin ich also unfähig, die Aufforderung von Jesus umzusetzen?

Bin ich.

Ich kann nicht lächeln, wenn die Welt untergeht.
Kann nicht laut und lange beten, wenn schnelle Entscheidungen gefordert sind.
Nicht auf Anhieb meine Feinde lieben; dem der mich verletzt vergeben; mein Recht aufgeben; schweigend Leid ertragen.

Ich brauche Jesus. Für alles und in allem; bin dankbar für sein Vorbild, seinen langen Atem mit mir und dass er mich immer wieder daran erinnert, meine Sorgen nicht bei mir zu behalten.

Und das, ganz ehrlich… das schaffe ich: Ich bin fähig, mit ihm über meine Sorgen zu sprechen; über meinen Kleinglauben und meine Schuld / Scham.
Und zum dritten Mal: Das grandios wunderbar liebevolle an Jesus ist auch sein Versprechen, bei mir zu bleiben – bis ans Ende der Zeit.
Trotz allem.

Bin ich unfähig? Sowasvon.
Kann es mir trotzdem gelingen, ruhiger zu werden, Feinde nicht gleich zu attackieren, mein Recht – wenn auch grummelnd – zurückzustellen?
Es gelingt tatsächlich.
Aber nicht, weil ich so demütig und geistlich und himmelsgleich bin. Oder was auch immer.
Es ist Jesus. Er hat versprochen, in mir zweifelnden, unsicheren und aufmüpfigen Menschen Veränderungen loszutreten.

So staune ich manchmal über mich selbst, wie lässig das Christenleben doch sein kann.
Doch viel zu oft schüttle ich resigniert das ergraute Haupthaar.
Rechne nach, wie lange ich schon mit Jesus unterwegs bin und es noch immer nicht gebacken kriege, besser zu glauben, weniger zu sorgen, fester zu stehen.
Um dann von Jesus zu hören: „Ich lass’ dich nicht los!“

In diesem Sinne:

Herzlichst, wo immer ihr seid!