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Unter einem Fluch

„Es gibt keine andere Möglichkeit: Der Dingens steht unter einem Fluch!“
Bämm. Das sitzt.
Zuerst weiß ich gar nicht, wie ich reagieren soll. Die Miene meines Gegenübers ist viel zu feierlich für ein Späßchen am frühen Abend. Außerdem macht man mit diesem Thema keine Witze. Um mir etwas Zeit zu verschaffen, frage ich sicherheitshalber noch einmal nach:
„Du denkst also echt, dass der Dingens … also dass er von Gott verflucht ist?!?“
Kopfnicken.
„Warum?“
Es folgen Beweise, die scheinbar wasserdicht sind – da bleibt am Ende des Plädoyers meines Gegenübers gar nichts anderes übrig, als mit schwerem Herzen das Urteil zu sprechen: Schuldig im Namen des (frommen) Volkes.

Der Background
Im Leben vom Dingens läuft’s bescheiden. Um ehrlich zu sein – es läuft sogar furchtbar mies. Ständig gehen irgendwelche Dinge kaputt, er lebt im Dauerstreit mit seiner Umwelt, bekommt Krankheiten zum unpassenden Zeitpunkt und als ob das alles noch nicht reichen würde: seine Arbeit leidet darunter. Und – logisch: Auf dem Bankkonto sieht’s gar nicht gut aus.

Allein diese Beweise reichen sicherlich noch nicht für ein abschließendes Urteil, schließlich möchte man jemand nicht vorschnell in die Verbannung schicken; also nach dort, wo Heulen und Zähneklappern zum Alltag gehören. Doch da gibt’s noch andere unübersehbare Hinweise:
„Dingens hat schon lange keinen Gottesdienst mehr besucht.“
„Dingens praktiziert einen unbiblischen Lebensstil.“
„Dingens liebt Gott nicht (richtig – ernsthaft – tief – unaussprechlich – mit ganzem Herzen).“

„Du bist echt davon überzeugt?“, frage ich vorsichtshalber noch einmal nach.
„Na ja.“
Überzeugend klingt anders.
Längere Pause.
Dann endlich: „Wenn Dingens mit Gott leben und ihn lieben würde, ginge es ihm doch besser, oder?“, lautet die unsichere Antwort.
Lange Pause. Von mir.
„Oder was? Sag doch etwas!“

Mann Mann Mann, was soll ich dazu sagen? Mein Gegenüber will ein Statement, das ihn in seiner Ansicht bestärkt.
Aber seine Meinung ist nicht meine Meinung.
Außerdem bin ich in seiner frommen Welt nicht daheim.

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Sein Weltbild
In seinem christlichen Weltbild haben dauerhafte Schwierigkeiten nichts verloren. Der Glaube, das Christsein, ein Leben mit Gott… – für ihn und seine Freunde ist das eine never-ending Erfolgsgeschichte. Nöte und Probleme haben (höchstens) eine minimale Lebensdauer. Weil: Gott schließlich Schwierigkeiten eliminiert.
Und so gleichen ihre Gesichter fröhlichen Smileys; sie selbst verbreiten Erfolgsgeschichten, die mit Gottesoffenbarungen und Gebetserfolgen zu tun haben; sie sprechen von einem liebevollen, mitteilsamen, tröstenden Gott, der nur eine Aufgabe zu haben scheint: Das Leben zu einem Fest gestalten.

Wer solche Statements sonntagsein und sonntagsaus zu hören bekommt, ist mit Lebenskrisen und defekte Werkzeugen überfordert – ganz zu schweigen mit (schwereren) Krankheiten.
Schließlich, so behaupten dort die Redner freudestrahlend, würden denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.
Ihr Fazit: Deshalb wird sich zeigen, dass die defekte Spülmaschine letztendlich DOCH für irgendetwas gut war – vielleicht ein cooles Gespräch mit der pubertierenden Tochter beim Abwasch; oder die Wiederentdeckung der gemeinsamen Liebe mit dem Ehemann. Oder: Gott redet während des Spülens und macht einem deutlich, dass man die Gabe des Dienens hat… und und und.

Die dunkle Seite des Mondes
Wer Gottesdienste aufsucht, in denen über Glück, Sinn und gelebten Traum mit Erfolgsgarantie gepredigt wird, kommt spätestens dann mit seinem Alltag nicht mehr klar, wenn dieser mit den gehörten Storys nicht kompatibel ist.
Dieser (bitterböse) Alltag bringt ganz sicher einige glückliche Episoden mit sich; aber auch defekte Kühlschränke, implodierende Fernseher, unnötige Verkehrsunfälle, Lebenskrisen und Krankheiten.
Hinzu kommt: Nicht alle Menschen schaffen auf Anhieb den Sprung in die nächsthöhere Schulklasse; haben Model-Körper-Maße; der Partner kann noch nicht mal ansatzweise mit dem RTL-Batchelor mithalten; und der Traum vom Leben endet morgens mit dem Klingeln des Weckers.

Also … da ist der Dingens auf der dunklen Seite des Mondes unterwegs. Soll heißen: Erfolg ist Mangelware. Die Gerätschaften, die er zum Leben und Arbeiten braucht, geben den Geist auf. Außerdem ist er ständig gereizt – er hangelt sich von einem Wutausbruch zum Nächsten. Dieses Verhalten nervt Dingens Mitmenschen und die ziehen sich folgerichtig von ihm zurück. Niemand will permanent von einem Arsch angemacht werden. Und schließlich: Hat Dingens endlich ein paar Tage Urlaub, wird er krank.

ABER: Kein Fluch. Das nicht.

Du bist selbst schuld
Wer permanent Grenzüberschreitungen praktiziert, wer sich keine Zeit für Körper- und Seelenpflege freischaufelt, wer sensible Daten nicht auf einer externen Festplatte speichert… der bekommt die Rechnung präsentiert. Alles nur eine Frage der Zeit. Ist die dann gekommen und der Rechner gibt den Geist auf … dumm gelaufen.
Klingt hart, ist aber so: Selber schuld.
Und noch einmal: Kein Fluch.

Hemmungslose Überarbeitung produziert Fehler am laufenden Band. Durchgearbeitete Nächte sind unproduktiv. Fehlende Ruhepausen holt sich der Körper durch Krankheiten. Wer trotzdem weitermacht, spielt mit dem (Lebens-)Feuer. Tabletten helfen kurzfristig. Alkohol überhaupt nicht.
Und immer noch: Kein Fluch.

Ich kann nichts dafür!
Fragt man einen Dingens, wer Schuld an seiner Misere hat, dann kann er diese Frage sofort beantworten: Alle. Vielmehr: Alle anderen. Die.

Falls einer von euch Dingens das hier liest: Ihr wisst genau, dass diese Aussage Bullshit ist. Die wahren Gründe, nämlich Egoismus, überzogene Vorstellung eurer Fähigkeit, Perfektionismus … irgendwas in der Richtung… das ist ganz allein euer Problem.

ABER: Es ist einfacher, dem Arbeitgeber oder den Lebensumständen oder der Familie oder oder … oder Gott eine gehörige Portion Mitschuld zu geben.
Ganz wichtig: Bloß nicht eingestehen, dass man selbst Veränderung schaffen kann. Könnte.

Verflucht? Nö. Selber schuld. Ausschließlich.

Woher ich das weiß?
Ich spreche aus Erfahrung.
Habe mich am zweiten Urlaubstag beim spanischen Kardiologen auf der Liege wiedergefunden. Sauger auf Brust, Armen und Beinen. Rechts von mir das Gepiepse vom EKG-Gerät. Ein Herzinfarkt? Alles gut. Der Spanier lächelte und verschrieb mir nach der Untersuchung weiße Pillen.
Und… habe ich daraus gelernt? Damals noch nicht.

Nach dem Urlaub hüpfte ich wie selbstverständlich zurück ins Hamsterrad. Kurze Zeit später gab es einen lauten Knall und das Drehrad sprang aus seiner Fassung.
Mit einem Fluch hatte das nichts zu tun. Vermutlich eher mit Trauer. Gottes Trauer über sein Kind, das sich einen zerstörerischen Lebensrhythmus zulegte – einen, den er weder wollte noch für gut befand.

Nachsatz für alle Dingens
Wer als Dingens in seiner (Hamsterrad-Welt) unterwegs ist, hat keine Zeit zum Nachdenken.
Mir ist schon klar, dass es diese Zeilen vermutlich niemals bis ins Dingens-Rad schaffen. Wie auch, schließlich sind die Dingens dieser Welt viel zu beschäftigt und haben alles unter Kontrolle.
Außerdem wird morgen alles Besser.
Ja ja coole Rede, Mann.

Nachsatz für alle Nicht-Dingens-People
Ihr lieben Leidtragenden… – eure Freunde, Partner, Väter sind NICHT verflucht, wenn sie den hier beschriebenen Lebensstil an den Tag legen. Auch nicht, wenn sie die Gemeinde meiden. Dort werden mitunter Lebenskonstrukte beschrieben, die mit ebendiesem Leben so gar nichts zu tun haben.
Hinzu kommt, dass sie in Gemeinden geballt auf Menschen treffen, die manchmal so dummes Zeug reden, dass einem schlecht davon wird. Menschen, die keine Ahnung haben, was es heißt, Kohle für die Familie anzuschaffen. Kredite zurückzahlen zu müssen. Das Studium ihrer Kinder zu finanzieren. Auf Geld zu warten, das vom Kunden bereits seit vier Monaten hätte zurückbezahlt werden müssen.

Das Leben ist halt kein großer Missionseinsatz in Übersee. Nicht für die Dingens. Die finanzieren den Nicht-Dingens (manchmal) solche Zeiten. Deshalb:

Nein. Nicht verflucht. Sondern mißverstanden, traurig, überarbeitet, alleine gelassen.
Aus diesem Grund verzichtet auf eine Anschuldigung. Sie ist nicht falsch, lieblos und zeugt von keiner Lebenserfahrung. Von einer theologisch-geistlichen Beurteilung ganz zu schweigen. Und nicht zuletzt zieht diese Aussage den Heinzels ihren letzten mickrigen Bodensatz an Lebens- und Glaubensfreude.

Was tun?
Dingens lassen sich nichts sagen. Sie müssen selbst begreifen.
Das ist dann in der Zeit nach dem Crash.
Leider.